Im falschen Leben, am falschen Ort
Die Berliner Fotografin Sophie verreist, um nicht in die Sackgasse zu geraten, in die ihr Leben zu laufen droht. In einem lauen Spätwinter tauscht sie ihr kleines Apartment mit einer Studentin in Marseille, läuft fotografierend durch die engen Straßen, macht Halt in Bistros. Dann lernt sie einen jungen Franzosen kennen, zu dem sie sich hingezogen fühlt. Allmählich gewinnt sie wieder den Boden unter den Füßen, ist dem Glück ganz nahe – und steht sich am Ende doch selbst im Weg.
Maren Eggert spielt Sophie so wunderbar natürlich und nach innen gekehrt, dass man nur wenige Einstellungen braucht, um sich als Voyeur in ihrem langsamen Leben einzurichten. Wie immer bei Angela Schanelec steht nicht der große Erzählbogen im Vordergrund, sondern die Konzentration auf kleinste Gesten und Stimmungen des Alltags. Ganz nebenbei fängt »Marseille« die Befindlichkeiten der bürgerlichen Thirtysomethings von heute ein, denen es materiell zwar meistens gut geht, die aber seelisch verarmen. Ob Flucht vor der Einsamkeit oder komplizierte Beziehungen – das Unvermögen, die anderen an sich ranzulassen, ist bei Schanelecs Personal allgegenwärtig. Ist man bereit, sich dieser Recherche der verlorenen Gefühle auszuliefern, dann entwickelt der Film, trotz seiner auf den ersten Blick spröden Optik, einen unwiderstehlichen Sog.
Gedrängt von Unruhe und Sehnsucht
Zurück in Berlin, hält Sophie das alte Leben nicht mehr aus. In der Beziehung zwischen ihrer besten Freundin Hanna und deren Mann Iván, den sie heimlich liebt, bleibt sie eine Unsichtbare. Gedrängt von Unruhe und unbestimmter Sehnsucht, bricht sie erneut in den Süden auf. Doch diesmal bietet ihr Marseille nicht die ersehnte Geborgenheit. Gleich bei der Ankunft wird Sophie Opfer eines Raubüberfalls, verliert ihr ganzes Hab und Gut. Fast scheint es, als sei dieser brutale Schnitt endlich der Befreiungsschlag, auf den sie schon immer gewartet hat.
Dass die französische Presse »Marseille« in ihr Herz schloss, als er auf dem diesjährigen Festival von Cannes in der Nebensektion »Un certain regard« lief, ist kein Wunder. Schließlich bekennt sich Schanelec ganz offen zu ihren Vorbildern Robert Bresson und Eric Rohmer. In Deutschland stoßen ihre Filme nicht selten auf Ratlosigkeit, wohl nicht zuletzt deshalb, weil sie sich den üblichen Sehgewohnheiten konsequent verweigert. Der immer wiederkehrende Wechsel zwischen statischen Totalen, Stille und ganz für sich selbst stehenden Miniaturen, die von der Unbehaustheit im Hier und Jetzt erzählen, mag nicht jedermanns Sache sein. Für manch einen anderen ist diese nie gefällige und sich fast schon schmerzhaft an der Realität abarbeitende Filmkonzeption eine seltene Herausforderung im deutschen Kino.
Marseille. D 04, R: Angela Schanelec, D: Maren Eggert, Emily Atef, 95 Min. Filmpalette, ab 25.11.