Die Schmerzensreiche
In gedeckten Farben und gedämpfter Stimmung feiert die beste New Yorker Gesellschaft Annas Verlobung. Zehn Jahre nach dem Tod ihres ersten Mannes hat sie sich beknien lassen. Doch die Trauer verschleiert immer noch ihr Gesicht. Am Morgen ihres neuen Lebens tritt ein Junge vor sie hin und behauptet, ihr verstorbener Ehemann zu sein. Anna schiebt ihn unwillig fort, doch der Junge kehrt wieder wie eine unauslöschliche Erinnerung. Schließlich stellt man ihn vor seinem Vater zur Rede, und der gebietet seinem Sohn die ungebetenen Besuche einzustellen. Als sich Anna beim Gehen noch einmal umwendet, sieht sie, wie der Junge in Ohnmacht fällt – und plötzlich glaubt sie ihm.
Wie inszeniert, wie spielt man so einen ungeheuerlichen Moment? Jonathan Glazer, der Regisseur, und Nicole Kidman, seine Hauptdarstellerin, haben sich für die beste aller Möglichkeiten entschieden: Sie lassen den Augenblick verstreichen und geben dem Publikum anschließend Gelegenheit, weit mehr in Annas Gesicht zu sehen als jede Schauspielerin auszudrücken vermag. Während Anna an der Seite ihres Verlobten in der Oper sitzt und die Kamera sich an ihr festsaugt, erkennen wir in ihr zugleich die Figuren, mit denen Nicole Kidman berühmt geworden ist: die junge Isabel Archer aus »Portrait of a Lady«, die nicht wahrhaben will, dass sie sich selbst betrügt und daran fast zerbricht; die New Yorker Ehefrau, die in »Eyes Wide Shut« vom eigenen Begehren überwältigt wird; oder die von den Geistern der Vergangenheit verfolgte Mutter in »The Others«. Wie selbstverständlich schiebt sich Kidmans Image als Filter und Verstärker unserer Wahrnehmung vor die Leinwand und lädt sie mit Bedeutung auf.
Natürlich hat Jonathan Glazer seine Hauptdarstellerin genau aus diesem Grund gewählt. »Birth« handelt von der Heimsuchung durch ein Gefühl, für dessen existenzielle Tiefe es im Film weder eine rationale Erklärung noch erläuternde Bilder gibt – alles spiegelt sich im Gesicht Nicole Kidmans. Vermutlich konnte dieses Kalkül auch nur mit dieser Schauspielerin aufgehen. Keine zeitgenössische Schauspielerin hat das Martyrium auf der Leinwand so innig umarmt wie sie und derart ausdauernd ertragen. Doch sooft sich Kidman auch in die Opferrolle gefügt hat, so selten erschöpft sie sich darin. Niemals kämen wir auf den Gedanken, sie zu bemitleiden, denn dazu sind ihre Figuren viel zu willensstark. Disziplin, Ehrgeiz und Wagemut haben Kidman zu einer der leading ladys Hollywoods gemacht, und diese Eigenschaften schimmern stets durch das Schmerzensantlitz hindurch. »Wir identifizieren ihre Rollen mit ihr«, so der amerikanische Filmkritiker
A. O. Scott über Nicole Kidman, »doch wir sehen auch den grundlegenden Unterschied: Das Unglück ihrer Figuren ist ein Zeichen von Kidmans Unabhängigkeit, ihrem Mut und ihrem Triumph über die Verhältnisse.« Weil sich Kidman bewusst in Gefühlsregionen begibt, in denen sie schutzlos erscheint, ist sie unangreifbar. Ihre Furchtlosigkeit umgibt sie wie ein Schild.
Rückblickend ist alles, was Kidmans Bild als Schauspielerin heute prägt, in ihrer australischen Jugendzeit bereits vorgezeichnet: ihre künstlerische Ambition, ihre Vorliebe für Dreharbeiten als tour de force und ihre Gabe, sich in extremen Rollen zugleich zu verlieren und zu finden. Zu Kidmans Initiation wurde Phillip Noyces »Todesstille«, ein Film, der für die gerade einmal 20-Jährige zur körperlichen und psychischen Tortur wurde. Sie versetzte sich in die Gefühlswelt einer Frau, die kurz zuvor ihr Kind verloren hat und sich während eines Segeltörns mit einem unberechenbaren Feind auf einer kleinen Yacht gefangen sieht. Als Vorbereitung hatte Kidman mit Frauen gesprochen, die eine Fehlgeburt oder sexuelle Gewalt erlitten hatten – dieser akribischen Recherche ist sie bis heute treu geblieben.
Nach den Erfolgen in ihrer australischen Heimat war Nicole Kidman in Hollywood bald wieder am Nullpunkt angelangt. Während der Dreharbeiten zu ihrem ersten Film in Übersee, »Tage des Donners«, lernte sie ihren späteren Ehemann Tom Cruise kennen, und nach der Heirat war sie zunächst einmal die Frau an seiner Seite. Als der mit »In einem fernen Land« unternommene Versuch, die frisch gebackenen Eheleute als neues Traumpaar zu etablieren, kläglich scheiterte, schrieb die Klatschpresse die im Film vorgeführte Amerikanisierung Kidmans from riches to rags auf ihre Weise fort. Sie entdeckte in ihr eine Eisprinzessin, die in der Spur ihres Gatten lief, aber keine eigenständige Schauspielerin. Ein Jahr lang war sie arbeitslos und drehte auch danach immer wieder ihre Runden in der Warteschleife. Insofern war es ausgleichende Gerechtigkeit, dass Kidman die Anerkennung Hollywoods mit einer Rolle errang, die alle ihr angedichteten Klischees im Übermaß erfüllte. Ihre Suzanne Stone aus Gus Van Sants »To Die For« ist zugleich Abbild und Zerrbild des amerikanischen Erfolgsstrebens: ein Ausbund gepflegter Herzenskälte, diszipliniert und durchgedreht, berechnend in ihrem Tun und doch auf eine berührende Art naiv. Hinter Suzannes mörderischem Ehrgeiz steckt eine Sehnsucht, die auch Kidman kannte, und so stattet sie ihre Figur zwar mit einem unschuldigen Augenaufschlag aus, mit aufgesetztem Schmollen und einer naiven Selbstverliebtheit, kurzum: mit dem ganzen Repertoire charakterlicher Oberflächlichkeit; doch verrät sie Suzanne nie und lässt uns die Tragik einer Frau ohne Eigenschaften verstehen.
Im folgenden Jahr lieferte Kidman in Jane Campions »Portrait of a Lady« eine großartige Studie des weiblichen Masochismus, die auch ihr damaliges Verhältnis zur Regisseurin treffend beschreibt; Stanley Kubricks »Eyes Wide Shut« führte schließlich jedermann ihre Begabung für inszenierte Intimität vor Augen und ihren künstlerisch fruchtbaren Hang zum theatralischen Exhibitionimus. Wie sich ihre Alice Hartford zu Beginn dieses opulenten Kammerspiels in den Armen eines Eintänzers wiegt und dabei die Silben gurrend in die Länge zieht – ganz so, als koste sie den Gedanken an eine Affäre aus –, das macht Kidman so schnell niemand nach. Und wenn sich Alice mit dem Geständnis geheimer Wünsche in verborgene seelische Gefilde wagt, oder kurz nach dem Erwachen einen Traum Revue passieren lässt, dann erscheint das Erinnerte und Geträumte wie tatsächlich erlebt. Gänzlich ungeschützt, noch im Herübergleiten aus einer anderen Welt, stellt sie sich ihren Fantasien, die ihre Ehe und vielleicht sie selbst zerstören könnten.
Seitdem sich Kidman ihre Rollen aussuchen kann, ist die Schmerzensreiche ihre erste Wahl: Sie war Virginia Woolf in »The Hours«, die Geisel der guten Menschen von »Dogville« und trotzte in »Cold Mountain« den Unbillen des amerikanischen Sezessionskriegs. Die Summe all ihrer Figuren ergibt ein Konterfei des postfeministischen Kinos: Kidman ist niemals nur Opfer oder nur Vorzeigefrau, keine Ikone der Duldsamkeit und kein Inbegriff der Emanzipation. Oder besser: Sie ist niemals nur das eine, ohne auch das andere zu sein. Ihre Figuren sind so widersprüchlich wie das Verhältnis der Geschlechter zueinander. Wenn ihre Filme gelegentlich eher restaurative Züge tragen, dann ist Kidman damit auf der Höhe unserer Zeit. Gerade die Verunsicherung darüber, was von den überkommenen Rollenmodellen noch für uns selbst taugt, scheint heute das Verbindende zwischen den Geschlechtern zu sein und das Zusammenleben ein Experiment mit offenem Ausgang. Auch Nicole Kidman lotet mit ihren Rollen die eigenen Möglichkeiten und Grenzen aus. Sie geht Wagnisse ein und macht aus unser aller Passion ihre ureigene Erfolgsgeschichte.
Von Michael Kohler ist gerade erschienen:
Nicole Kidman (Stars! 12), Bertz + Fischer,
Berlin 2004, 160 S., 9,90 Euro.
Birth (dto) USA 04, R: Jonathan Glazer,
D: Nicole Kidman, Cameron Bright, Danny Huston, 100 Min. Start: 23.12.