Betreute Rache

Clemens J. Setz erzählt von der Beziehung zwischen einem Stalker und seinem Opfer

»Sie liebte den Geruch von Sonnenmilch, er war bunt und cocktail-artig, und gleichzeitig war etwas Fellwarmes darin, bestimmt roch so der Nacken von Bugy Bunny.« Die Welt der 21-jährigen Natalie Reinegger ist bestimmt von sprunghaftem Denken. Auf ihrer Schulter hocken imaginierte Tiere, die ihren Bewegungen »Sanftheit und Genauigkeit« verleihen, sie setzt sich mit der eigenen Epilepsie auseinander und muss »Andockversuchen« mit fremden Männern auf dämmrigen Fahrradwegen ausweichen. 

 

Clemens J. Setz’ Roman »Die Stunde zwischen Frau und Gitarre« folgt über 1000 Seiten radikal der Sicht Natalies auf die Welt, ihren Sehnsüchten und Hoffnungen, aber auch den Abgründen derer, die sie umgeben. Sie arbeitet als Pflegerin in einem privaten Heim für psychisch Erkrankte, ist dort persönliche Betreuerin von Alexander Dorm, der einst Christopher Hollberg gestalkt hat, einen »Mann in der Nachspielzeit seines Lebens«. Dorm lauerte seinem Opfer auf, schrieb ihm Briefe, bis sich dessen Ehefrau das Leben nahm, wurde dafür verurteilt und lebt nun in jenem Heim in Graz, in dem Natalie ihre Stelle antritt, und, für sie unerklärlich, besucht ihn sein einstiges Opfer einmal pro Woche. 

 

Im Buch gehe es um eine »Rache ohne Opfer«, hat Setz in einem Interview gesagt, und so verschwimmt die Grenze zwischen Täter und Opfer, Gut und Böse. Opfer Hollberg quält Dorm bei seinen Besuchen, lässt ihn aus seiner Hand fressen, behandelt ihn wie einen Hund, dem er den Kopf tätschelt: »Jaja. Der ist mir vielleicht einer. Aus, Lumpi, aus.« Während Dorm sich den Qualen freudig unterordnet, sie zu genießen scheint, wird Natalie zur Beobachterin dieses Verhältnisses und schließlich zu einem Teil davon. Setz spielt mit Rachegelüsten, mit Gewaltfantasien, die teils reale Formen annehmen, und teils im Kopf Natalies verbleiben. Vordergründig konventionell und gerad-linig erzählt, wird die Sprache mit ihren Verweislinien zu einem -weiteren Protagonisten. Als Leser verstrickt man sich in die nacherzählte Gedankenwelt Natalies, in ihre Ticks und abgründigen sexuellen Fantasien, bis man irgend-wann bemerkt: Der wahre Voyeur, der wahre Stalker ist man selbst. 

 

 

Di, 1.12., Belgisches Haus, 20 Uhr