Das große Drama
Das neue Rockjahr startet unter interessanten Vorzeichen. Zwei Ausnahme-Alben bringen eine Dimension von Ambition, Virtuosität und Streitbarkeit ins Geschäft, die man lange vermisst hat. Endlich wieder Musik zum Mystifizieren und zum Haare raufen! Der Retro-Rock’n’Roll-Konsens scheint endlich ein Ende zu haben.
Konservativismus zwischen Morrissey und Franz Ferdinand
Es war ja eine Weile ganz nett: Schicke Jungs zitierten coole Vorbilder aus den 70er Jahren (Rolling Stones, Velvet Underground etc.) und schließlich den 80ern (The Pop Group, E.S.G.). Das brachte Geschichtsbewusstsein und Hipstertum in eine Musik, deren Gehabe schon länger nur noch wenig zu bieten hatte. Doch was, wenn sich die eine Band kaum noch von der anderen unterscheidet? Trotz aller smarten Aneignungen aus dem Geschmacksarchiv blieb 2004 kaum Nachhaltiges übrig. Stattdessen regierte ein neuer Konservativismus, angesiedelt zwischen Altmeister Morrissey und den Newcomern Franz Ferdinand, der Fragen des Stils nicht mehr musikalisch, sondern nur noch in ästhetischen Posen und klassischem Handwerk verhandelte.
Es reichen die Platten zweier Bands aus Texas, damit Rock wieder übertrieben größenwahnsinnig, künstlich und künstlerisch klingt. »Wir wollten nie etwas mit einer konkreten Szene oder einem beengtem Genre zu tun haben«, sagt denn auch Omar Rodriguez-Lopez, Songwriter des Kollektivs The Mars Volta, gleich zum Gesprächsbeginn. »Wir waren immer Outlaws. Der Vorteil: Wir mussten uns nur an unseren eigenen Maßstäben orientieren.« Solche Sätze ist man von Rockern gewohnt. Doch Omar und seinem Kollegen Cedric Bixler-Zavala, dem Sänger des Quintetts, nimmt man das ab. Als Hispanics mit voluminösen Frisuren, die sie zu Außenseitern in der eigenen Community machten, hat man es in Texas sicher nicht leicht.
Schwitzende Südamerikaner
Mit ihrer Vorgänger-Band At The Drive-In galten sie lange als Vorzeige-Act der Post-Hardcore-Szene. Doch als der Karrierestern gerade am hellsten glühte, warfen Cedric und Omar das Handtuch. »Warum soll man etwas weitermachen, worin man keine Entwicklung sieht? Da bringt dir auch ein volles Konto nichts«, konstatiert Cedric lakonisch. So gründeten die beiden The Mars Volta und holten gleich eine Unmenge musikalischer Verwandter ins Boot. Auf ihrem Debüt »De-Loused In The Crematorium« ist Flea von den Red Hot Chilli Peppers am Bass zu hören und an den Reglern stand der legendäre Produzent Rick Rubin. Dazu kommen Bläser, Keyboarder und ein Drummer, der mehr als sechs Arme zu haben scheint. Wenn diese Musik, die gleichzeitig chaotisch und filigran organisiert, kühl konzeptuell und emotional aufgeladen scheint, in eine Schublade passt, dann ist es Progrock. Wenn aber eine Handvoll schwitzender Südamerikaner improvisierend über die Bühne springen und tragisch-kryptische Geschichten vom Selbstmord ihres besten Freundes vertonen, klingt das alles verrückter als ein Revival der alten Progrock-Monster Rush oder Dream Theatre.
Ihr neues Werk »Frances The Mute« hat sich in diesen Exzess noch hineingesteigert. Es wird gedaddelt wie bei Hendrix und gewabert wie bei Pink Floyd, dazu kräftig gerockt und mit zahlreichen Breaks jede Songstruktur an dem Moment weiter verkompliziert, wo andere Bands schon von ihren Kräften verlassen sind. Ein Mammut-Werk, das fünf Songs umfasst und dessen Laufzeit 77 Minuten beträgt. Allein das letzte Stück geht über eine halbe Stunde. Diese Chose kann man natürlich manieristisch und pathetisch finden, aber das ist okay. Großes Drama und großes Können machen die gute alte Rockmusik so wieder zu dem Theater, das sie immer gewesen ist.
Ambitioniert daneben
Davon zeugt auch das noch wahnsinnigere Album von ...And You Will Know Us By The Trail Of Dead. Diese Texaner klangen früher nach Sonic Youth und Südstaaten-Punk, der die einsame Poesie langer Highways samt diffuser Lyrizismen von Freiheit und Wut einzufangen vermochte. Auf bizarre Weise spiegelte sich das in ihren Konzerten wider: In furiosen Finalen zerstörten sie ihre Instrumente zu gekonnten Krachorgien.
Doch hört man ihre neue Platte »Worlds Apart«, die bereits wild von der gesamten Musikjournaille gehypt wird, sind die letzten Jahre nur das Vorspiel gewesen. In einer wahnwitzigen Reise durch die Musikgeschichte füllen Trail Of Dead ihren Energie-Container mit allem, was zwischen Johann Sebastian Bach, »Jesus Christ Superstar« und frenetischem Rock’n’Roll zu finden ist. Das klingt in der einen Sekunde noch wie ein psychedelischer Rockcircus, in der nächsten wie der Versuch einer ernst gemeinten Operette.
Auch das ist – wie das Œuvre von The Mars Volta – fantastisches Theater am Rande zum schaurig-schmierigen Drama: in seiner geschmacklich unabgesicherten Waghalsigkeit derart ambitioniert daneben, dass Rockmusik wieder den performativen Unterhaltungswert erringt, den sie lange im Keller versteckt hielt.
The Mars Volta, »Frances The Mute« und ... And You Will Know Us By The Trail Of Dead, »Worlds Apart« sind beide bei Universal erschienen.