»Ich schreibe mit den Ohren«
StadtRevue: Du bist bekannt dafür, dass Du gerne Lesungen machst. Warum macht Dir das Spaß?
Guy Helminger: Für mich ist das Lautliche ein fundamentaler Aspekt von Sprache und damit von Literatur. Also gehören Lesungen elementar dazu. Warum sollte ich als Autor auf dieses lautliche Element verzichten? Das wäre absurd.
Ist das nicht ein Widerspruch zur Verschriftlichung, um die sich die Literatur ja bemüht?
Die Verschriftlichung ist schlussendlich nur ein Medium, um mehr Leute zu erreichen. Aber für mich behält Literatur ewig diesen lautlichen Aspekt. Darum sage ich: Egal welches Buch man anfängt zu lesen – die ersten zehn Seiten sollte man laut lesen. Man wird sich wundern, was man an Sprachfluss, an Duktus findet, anders als wenn man den Text stumm liest.
Liest Du Dir selbst vor?
Ja. Das übt ungemein, deshalb kann ich es auch anderen Autoren empfehlen. Wenn man keine Übung im laut Lesen hat, kommt das dabei raus, was man bei vielen Lesungen erlebt: dieses Vor-sich-hin-Gestottere, bei dem dann die hinterste Reihe recht bald einschläft.
Warum ist es für viele Autoren so schwierig, gute Lesungen zu machen?
Ich glaube nicht, dass es schwierig ist. Ich glaube, viele Autoren haben einfach keine Lust, sich damit zu beschäftigen. Oder sie machen aus der Not eine Tugend und sagen: Die Literatur muss für sich selbst sprechen. Das aber ist für mich ein Widerspruch, denn die Literatur ist nie mehr bei sich selbst als wenn sie klangvoll und laut ist.
Liest Du also auch laut, wenn Du schreibst?
Nein. Aber ich schreibe mit den Ohren. Wenn Autoren sagen, die Lautlichkeit sei nicht wichtig – wie kommt es dann zu Phänomenen wie Rhythmus oder Anaphern oder Stabreim? Das sind Begriffe aus der Lautlichkeit. Ich habe nichts davon, wenn ich nur sehe, dass die erste Zeile mit dem gleichen Buchstaben anfängt wie die Zeile darunter. Das bekommt erst seine wirkliche Bedeutung, wenn ich es höre.
Gelingen Lesungen manchmal nicht, weil Autoren schüchtern sind? Es steht ja nicht jeder so gern auf einer Bühne wie Du.
Lesungen muss ja niemand machen.
Lesereisen gehören aber inzwischen zur Vermarktungsstrategie von Verlagen.
Mit Sicherheit wird man bekannter durch Lesungen. Von daher haben Lesungen auch einen wirtschaftlichen Aspekt, und sicher bitten Verlage ihre Autoren darum. Aber niemand wird gezwungen. Ich verlange nicht, dass alle Autoren eine wilde Performance hinlegen. Aber den eigenen Ton zu treffen, das wäre wunderbar. Und das kann man lernen. Man stellt sich vor den Spiegel, man zeichnet sich auf und hört das ab – dann merkt man sofort: An dieser Stelle sollte es spannend werden, warum gehe ich da mit der Stimme runter? So etwas herauszufinden, ist wirklich einfach. Aber das tut kaum einer.
Muss man sich eine Rolle zulegen wie ein Schauspieler, um Distanz zum Text zu bekommen?
Das glaube ich nicht. Im Unterschied zu einem Schauspieler muss ich mir ja meine Texte nicht aneignen in dem Sinne, dass ich begreifen muss, was für eine Emotionalität in ihnen steckt. Den eigenen Ton zu treffen heißt nichts anderes, als heraus zu destillieren, was in den Sätzen an Emotionalität oder Zurückhaltung steckt. Wenn ich ein Gedicht lese, das von Herbstlaub oder Liebe handelt, werde ich nicht brüllen wie ein Feldwebel auf dem Kasernenhof. Aber so etwas erlebt man.
Wirklich?
In einem meiner Autorenseminare war ein Mann, Mitte Fünfzig, der früher in der Armee war. Er hatte nun angefangen, Gedichte zu schreiben über den Herbst. Er hat mit schnarrender Stimme gebrüllt: Das Laub fiel! (lacht) Da dachte man, man sei in Stalingrad. Ich übertreibe jetzt ein wenig, aber ich habe ihm schon gesagt: Es ist richtig, dass da jemand fällt, aber der ist nicht getroffen worden ...
Was bringst du Autoren in deinen Seminaren bei?
Es geht um das Vortragen von Texten. Meist ist das eine Gruppe von Autoren, die sich schon kannten, die sich nicht weh tun wollten. Ich fungiere als Moderator, der sich trauen kann zu sagen, was gut und was nicht gut ist. Dann trauen sich auch andere, Kritik zu üben. Ich habe mir die Texte vorher schicken lassen und überlegt, wie ich sie vortragen würde. Außer dem angemessenen Textvortrag muss man auch seine Körpersprache unter Kontrolle haben, die ganzen kleinen Gesten, die man unbewusst macht. Man muss davon ausgehen: Das Publikum ist dein Feind. Die Zuhörer merken sofort, wenn ein Autor unsicher ist, sie werden ihn dann nicht mehr so ernst nehmen. Im besten Falle führen solche Übungen dazu, dass man sich in der Lesungssituation wohl fühlt, die Nervosität entsteht nur dadurch, dass man der Situation nicht gewachsen ist.
Ist das Publikum denn wirklich der Feind? Das Lesungspublikum ist doch eher wohlwollend.
Dass das Publikum der Feind ist, ist natürlich überspitzt formuliert. Aber die Person auf der Bühne steht unter Beobachtung. Und oft hört man hinterher Leute sagen: Der war aber schon sehr aufgeregt...
Ist das nicht genau das, was Leute wollen: die Distanz zum Autor verringern, den Menschen entdecken?
Das Bedürfnis gibt es. Aber das ist nur die umgekehrte Variante davon, dass durch das Vortragen des Textes eine Tür geöffnet wird. Das ist zum einen eine Verringerung der Distanz zum Text, aber auch zum Autor. Ich finde gut, dass man sieht, dass der Autor ein ganz normaler Mensch ist, dem man Fragen stellen, mit dem man ein Bier trinken kann. Den Geniekult finde ich völlig stumpf.
Gibt es Autoren, die den Geniekult gerne pflegen?
Ich glaube schon. Und ich denke, dass es auch ein Publikum gibt, das ungerne darauf verzichten würde. Aber ich halte es schlussendlich für verlogen.
Welche Fragen werden Dir bei Lesungen am meisten gestellt?
Gerade im Hinblick auf meine neueren Geschichten werde ich nach meinem Verhältnis zur Brutalität gefragt und was für ein Menschenbild ich eigentlich habe. Ein Beispiel: In dem neuen Band gibt es eine Geschichte, die heißt »Golden Retriever«. Sie handelt von einem Menschen, der augenscheinlich völlig normal lebt. Er klaut aber einen Hund, hängt ihn in der Wohnung auf, foltert ihn und zeichnet die Geräusche auf. Das wird nur auf der ersten Seite beschrieben – die Geschichte hat 15 Seiten. Der Leser weiß aber, dass der Hund da hängt. Die Geschichte habe ich letztens in Köln gelesen, da sprang in der ersten Reihe eine Frau auf, kam auf mich zugelaufen und brüllte: Das ist ja abartig, ich gehe. Die ganze erste Reihe ist mit ihr aufgestanden und gegangen. Das wundert mich angesichts der Brutalität, die man innerhalb von 30 Sekunden in den Nachrichten geboten bekommt, aber eben als goutierbare Häppchen. In der Literatur jedoch kann man verweilen, auseinanderblättern – und dadurch tut es plötzlich weh. Es wird quälend langsam.
Ist es auch quälend beim Schreiben?
Nein. Ich kann mir beim Schreiben keine Emotionen erlauben. Wer verliebt ist, schreibt keine guten Liebesgedichte. Man braucht Distanz, um mit Sprache arbeiten zu können.
Müssten die Verlage mehr auf gute Lesungen achten oder Autoren schulen?
Die Autoren müssten selbst darauf achten und sich vorbereiten. Das würde ja schon reichen. Dafür muss man aber das Konzept akzeptieren, dass Lesung etwas mit Literatur zu tun hat und nicht nur mit Verkaufen. Und man muss akzeptieren, dass man nicht der Große ist, der sich alles erlauben kann, sondern dass man dem Publikum eine gute Lesung schuldet.
Lässt sich das Publikum zu viel gefallen?
Ja, ich finde schon erstaunlich, was man auf einer Lesungsbühne alles machen kann. Die meisten Leute sind viel zu zivilisiert um aufzustehen und zu gehen, obwohl sie Eintritt gezahlt haben. Ich weiß nicht, ob die Leute genauso geduldig wären, wenn sie in den Zirkus gingen, der ankündigt, dass Elefanten in der Manege seien – und dann sind da nur Mäuse.
Info
Lesung: 11.3., 20 Uhr, Nyland Stiftung, Brüsseler Straße 72. Guy Helminger u.a. lesen zur Eröffnung der neuen »Lesebühne am Brüsseler Platz« (s.a. S.108 in der aktuellen StadtRevue).
Hörspiel: Am 15. März sendet Eins Live (UKW 102,4 MHz) um 23 Uhr Helmingers neues Hörspiel »Rekonstruktion Kresch«.
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