Das Titanic-Feeling
Nett und freundlich wirken sie. Auf den ersten Blick erscheinen Hans Ganter und Claas Hohlweger wie ganz gewöhnliche Anfangzwanziger. Nichts fällt an ihnen sonderlich auf. Sie sind nicht einmal gepierct. Beide sehen genauso aus wie unzählige andere, die im Wintersemester an der Kölner Universität ihr Jura-Studium begonnen haben. Und doch unterscheiden sich die Freunde von der Mehrzahl ihrer Kommilitonen. Denn die beiden verbindet etwas, das sie von der großen Mehrheit nicht nur ihrer Altersgenossen trennt: Ganter und Hohlweger sind Neumitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Völlig antizyklisch und kaum zu glauben. Denn wer tritt schon gegenwärtig in die SPD ein? Da tritt man doch höchstens aus.
Aber Ganter und Hohlweger sind eben anders: »Die SPD war schon immer die Partei, der ich am nächsten stand«, erzählt Hohlweger. Sein Eintritt jetzt sei »so eine Gefühlssache« gewesen. Er habe sich bereits früher mal überlegt gehabt, sich in der Partei zu engagieren. Jetzt habe es sich halt in den Semesterferien »so ergeben«. Er habe das »gar nicht unbedingt direkt auf die aktuelle Politik bezogen«, fügt der 22-Jährige schnell und irgendwie entschuldigend hinzu. Auf jeden Fall ging’s ganz einfach: Per Mail meldete er sich beim zuständigen SPD-Ortsverein und bei den Jusos. »Ich war wirklich überrascht: Beide haben in kürzester Zeit geantwortet.« Schwupp war er drin. Und mit ihm Hans Ganter: »Ich habe zu Claas gesagt: Regel das mal, dann komme ich auch mit.« Im März sind sie eingetreten. Genau zur rechten Zeit, um sich für ihre neue Partei in den Landtagswahlkampf zu stürzen.
Genosse sein nicht mehr trendy
Auch für den 21-jährige Ganter, den es erst im vergangenen Jahr aus dem tiefschwarzen Baden-Württemberg in die Domstadt verschlagen hat, ist die SPD »eigentlich schon immer meine Partei gewesen«. Seinen alten Freunden im Ländle habe er von seinem SPD-Eintritt aber noch nichts verraten. Manche seiner neuen Kölner Freunde, denen er davon erzählte, hätten recht entsetzt reagiert: »Also das erste, was ich gehört habe, war: Tritt gleich wieder aus, du schadest dir nur selbst.« Nein, eine SPD-Mitgliedschaft gilt wirklich nicht als hip. Ob sich hinter dem außergewöhnlichen SPD-Eintritt eine gewisse morbide Sehnsucht verbirgt, einmal bei einem historischen Untergang hautnah dabei sein zu können? Genieße das Titanic-Feeling bevor es zu spät ist!
Es gab mal eine Zeit, da war es geradezu trendy, Genosse zu sein. Damals, als Ganter und Hohlweger noch nicht einmal geboren waren. Damals in den späten sechziger, frühen siebziger Jahren, als der sozialdemokratische Kanzler noch Brandt hieß und »mehr Demokratie wagen« wollte. Mit dem Schlachtruf »Willy wählen!« strömten junge Menschen in Scharen in die Partei. Geprägt von 68er-Studentenbewegung und außerparlamentarischer Opposition wollten sie die Gesellschaft verändern. Und in ihrem jugendlichen Überschwang hatten sie sich ausgerechnet die SPD und ihre Jugendorganisation als Instrumente dazu erkoren. Innerhalb weniger Jahre stieg die Mitgliederzahl der Jungsozialisten auf über eine Viertelmillion.
Hoffnung auf bessere sozialdemokratische Zeiten
Und die stritten dann jahrelang mit sich und der Parteiführung über den richtigen Weg: Reform oder Revolution? »Zu unserem Willen, konsequent sozialistische Politik zu betreiben, gehört auch, dass wir die SPD insgesamt zu einer konsequent sozialistischen Partei machen wollen«, verkündete der Juso-Bundesvorsitzende Klaus Uwe Benneter 1977. Da war allerdings die Aufbruchstimmung der Anfangsjahre bereits längst verbraucht. Auf Brandt war Helmut Schmidt gefolgt, aus dem »mehr Demokratie wagen« wurde der deutsche Herbst und »Benni Bürgerschreck« Benneter noch im selben Jahr aus der Partei geworfen. Andere gingen freiwillig: Sie wechselten in die aufkommende grün-alternative Bewegung oder privatisierten schlichtweg. Manche traten auch den »Marsch durch die Institutionen« an und machten Parteikarriere. So wie ausgerechnet der geschasste Benneter: Er durfte sechs Jahre nach seinem Rausschmiss 1983 reumütig in die SPD zurückkehren, lavierte sich hoch und ist inzwischen SPD-Generalsekretär. In seiner Person dokumentiert sich wie bei kaum einem anderen das Scheitern linker Hoffnungen und die heutige Krise der SPD.
Die restlichen – nicht wenigen – Verbliebenen richteten sich irgendwie ein: Sie behielten ihr Parteibuch in der Schublade und hofften, dass mal wieder bessere sozialdemokratische Zeiten anbrechen würden. Genau sie stellen jetzt den Großteil derjenigen, die in den vergangenen Jahren zu Zehntausenden der SPD den Rücken gekehrt haben. Sie überstanden die bleiernen Jahre unter Schmidt, die lange düstere Zeit sozialdemokratischer Opposition während der Ära Helmut Kohls – doch Gerhard Schröders Regierungspolitik verkraften sie nicht mehr.
Die SPD steht für ein gewisses Solidaritätsgefühl
So wie Werner Ley. 25 Jahre war er Kölner Mitglied, zuletzt führte er die Kasse seines SPD-Ortsvereins in Chorweiler. »Man hatte ja immer noch Hoffnung«, begründet der 55-jährige Gewerkschaftssekretär sein langes Ausharren. Außerdem habe er an den ehernen Leitsatz geglaubt: »Man ist Sozialdemokrat, man bleibt Sozialdemokrat.« Aber die »Agenda 2010« habe ihm endgültig den Rest gegeben: »Da sind Dämme gebrochen.« Im Sommer vergangenen Jahres trat er aus. Jetzt kandidiert Ley bei der Landtagswahl für die linke »Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit«.
Auch etliche seiner langjährigen Weggefährten hätten inzwischen ihr Parteibuch zurückgegeben, berichtet der Kölner Bundestagsabgeordnete Rolf Mützenich, SPD-Mitglied seit 1976. »Das tut weh, denn mit diesen Leuten bin ich in der Partei groß geworden.« Vor einiger Zeit noch unvorstellbar: Mittlerweile hat die CDU in Nordrhein-Westfalen mehr Mitglieder als die einst so stolze SPD. Schröder sei »nicht nur gescheitert, er hat auch die Partei heruntergewirtschaftet«, bilanziert der Kölner Politikprofessor und Immer-noch-trotz-alledem-Sozialdemokrat Christoph Butterwegge. Das sei »die Enttäuschung einer politischen Generation«, kommentiert Kölns 30-jähriger SPD-Vorsitzender Jochen Ott den Aderlass.
Hohlweger und Ganter gehören einer anderen Generation an als die Rebellen von einst. Linke Gesellschaftsveränderungsträume sind ihnen fremd. Was einen unabweisbaren Vorteil hat: So können sie auch nicht enttäuscht werden. Eine Politik »etwas links der Mitte«, das reicht den beiden. »Derzeit macht die SPD mir ein bisschen zu arg die Politik der Mitte und der Großkonzerne«, bemängelt zwar Neumitglied Ganter. Aber trotzdem hat er dafür Verständnis: Es sei für die Partei auf Grund des öffentlichen Drucks »zur Zeit schwer, eine andere Politik zu machen«. Und Hohlwegers Vorstellung von der SPD? »Für mich steht die SPD für den Gedanken, dass man zusammenhält, dass es so ein gewisses Solidaritätsgefühl gibt«, erklärt er.
NRW kein »sozialdemokratisches Stammland«
»Wann immer nun das letzte Stündlein von Rot-Grün schlagen mag: Am Ende dieser Regierung wird dieses Land illusionsbereinigt und konservativer sein als 1998«, schrieb kürzlich die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Da könnte etwas dran sein. Für die rot-grüne Koalition in Nordrhein-Westfalen jedenfalls schlägt das letzte Stündlein möglicherweise am 22. Mai. Nach Schleswig-Holstein wäre dann auch das letzte Bündnis von SPD und Grünen auf Landesebene von der Bildfläche verschwunden. Die Wetten stehen gut, dass am Landtagswahltag eine Ära zu Ende gehen wird, die einige ebenso ausdauernd wie fälschlich immer wieder behaupten ließ, Nordrhein-Westfalen sei ein »sozialdemokratisches Stammland«: Falls nicht noch ein Wunder geschieht, dürfte nach 39 Jahren erstmalig wieder ein Christdemokrat Ministerpräsident an Rhein und Ruhr werden. Dann hätte der Reigen der SPD-Ministerpräsidenten, der 1966 mit dem Kölner Heinz Kühn hoffnungsfroh begann, mit dem Hanse-Import Peer Steinbrück seinen traurigen Abschluss gefunden.
Nicht nur für Hohlweger ist das eine noch gewöhnungsbedürftige Perspektive: »Ich bin damit aufgewachsen, dass NRW SPD-regiert ist«, sagt er. »Deshalb ist es für mich noch nicht so richtig vorstellbar, dass jetzt auf einmal die CDU an die Macht kommen könnte.« Dabei hatte sich die SPD nach den Kommunalwahlen im vergangenen Herbst noch einmal kräftig Mut zugeredet. Zwar bescherten ihr die Wählerinnen und Wähler das schlechteste Ergebnis seit Gründung des Bundeslandes. Aber es hätte ja noch schlimmer kommen können! Dank steigender Umfragewerte sahen sich die Genossen zu Anfang dieses Jahres sogar wieder unaufhaltsam auf der Siegesstraße: »Bis Mitte Februar hatten wir eine Stimmung, die war besser als die Lage«, konstatiert SPD-Frontmann Steinbrück.
Doch seitdem geht es wieder bergab, und die SPD gleicht einem schwer angeschlagenen Boxer kurz vor dem K.O. Nun appelliert Steinbrück an seine Genossen: »Ich habe eine dringende Bitte, keine Trefferwirkung zu zeigen.« Er versucht, Kampfeswillen zu demonstrieren: »Diese Wahl wird in den letzten vierzehn Tagen entschieden.« Und wer weiß: Wenn unerwartet noch ein ganz großes Rheinhochwasser kommt, Schalke 04 am Tag vor der Wahl deutscher Herrenfußballmeister wird und die FDP am 22. Mai an der Fünfprozenthürde scheitert – vielleicht reicht es ja dann doch noch mal. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Auf jeden Fall müsse seine Partei »jetzt laufen«, hat Steinbrück als Parole ausgegeben. Gilt das auch für die beiden Neumitglieder? »Prinzipiell schon, aber das Studium hat wieder begonnen«, schränkt Claas Hohlweger ein. »Also wenn ich merke, ich muss was für die Uni tun, werde ich nicht sagen: Geht jetzt nicht, weil ich Wahlkampf mache.« Hans Ganter nickt zustimmend. Am 22. Mai wird es wohl wirklich knapp werden für die Sozis an Rhein und Ruhr.
Info
Landtagswahl am 22. Mai:
Wer kandidiert in Köln?
Insgesamt 13 Parteien und ein Einzelbewerber treten in Köln zur Landtagswahl an – einige von ihnen kandidieren aber nicht in der gesamten Stadt.
Für alle sieben Kölner Wahlkreise zugelassen sind SPD, CDU, FDP und Grüne sowie folgende Parteien: Die PDS, die beweisen will, dass sie auch tief im Westen Stimmen holen kann;
die mit der PDS konkurrierende Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit, gegründet von SPD-Enttäuschten und Gewerkschaftern; die Rentner-Lobby Die Grauen und die rechtsradikalen Republikaner.
Nur in einigen Wahlkreisen treten an: Die 1982 aus der FDP ausgetretenen Liberaldemokraten/ die Sozialliberalen; die konservativ-umweltschützerische Ökologisch-Demokratische Partei (ödp); die von der Ex-Fundi-Grünen Jutta Ditfurth gegründete Ökologische Linke (ÖkoLi); die verschwörungstheoretisch geprägte Splitterpartei Bürgerrechtsbewegung
Solidarität (BüSo) und die rechtsradikale NPD. Im Wahlkreis Köln II (Lindenthal) kandidiert außerdem als Einzelbewerber der Ex-CDUler Benedikt Fuchs. (tg)