Nein heisst nein
Wie haben Sie die Ereignisse der Silvesternacht wahrgenommen?
Ingrid Strobl: Ich war vor Ort. Alle Leute waren voll durchgeknallt, oben am Rheinufer waren sie schon am Böllern, auf die Leute hin, eine total aufgedrehte Stimmung. Auf der Domtreppe wurde es aggressiv, ich habe fast Platzangst bekommen und bin schnell gegangen. In der Bahnhofshalle war es rappelvoll. Da standen drei Bundespolizisten mit Panik in den Augen — die waren überfordert. Als ich dann später gehört habe, was passiert ist, war ich erstaunt, denn ich habe nichts bemerkt. Ich bin 1,68 Meter groß, ich hätte gar nicht gesehen, wenn die vor mir eine Frau abgegriffen hätten. Das Problem ist, dass Frauen auch heute noch erstmal in Schockstarre verfallen, wenn sie angegriffen werden. Wenn die Frauen die wilde Furie gemacht und Zeter und Mordio geschrien hätten, hätte sich das alles vielleicht anders entwickelt.
Irmgard Kopetzky: Erstarren ist ein Reflex, da kann man je nach Erfahrung überhaupt nicht mehr vernünftig rangehen. Kämpfen muss man wirklich vorher sehr gut üben.
Mithu Sanyal: Man könnte an den Schulen ja neben Sexualkunde auch Selbstverteidigung verpflichtend machen, etwa geschlechtergetrennt im Sportunterricht.
Jetzt, wo die Täter überwiegend die vermeintlich »Anderen« sind, entbrennt eine heftige Diskussion über sexualisierte Gewalt. Wie stehen Sie dazu?
Strobl: Als Feministin finde ich es bitter, dass ein Thema, an dem wir seit Ewigkeiten sitzen, plötzlich begeistert aufgenommen wird, um es in eine Abschiebemöglichkeit zu drehen. Es geht ja nicht darum, Frauen zu schützen.
Sanyal: Ich fand es sehr schwierig, über Silvester nachzudenken, obwohl ich mich viel mit sexualisierter Gewalt beschäftige. Der Rassismus von rechter Seite war massiv. Es ist wichtig, gesamtgesellschaftlich über Sexismus und sexualisierte Gewalt zu sprechen. Das betrifft ja alle, nicht nur Muslime.
Kopetzky: Da ist ganz viel sehr schnell, aggressiv und dumm vermischt worden. Das war sehr anstrengend, man konnte nichts sagen, was nicht von irgendeiner Seite kritisiert wurde. Langsam wird es besser, weil man Distanz hat.
Jae-Soon Joo-Schauen: Die Antidiskriminierungsarbeit, die wir bei Agisra seit Jahrzehnten leisten, hatte viel an der Wahrnehmung der Geschlechterrollen von Migrantinnen und Migranten geändert. Dazu gehört auch, dass die Presse darauf verzichtet, das Herkunftsland des Täters oder des Verdächtigen zu nennen. Dies trägt zur Klärung des Sachverhalts nicht bei, sondern produziert Klischees. Das ist alles zerstört worden.
Lydia Benecke: Das Problem mit den Medien ist, dass sie einfache Antworten wollen. Eine rationale und wissenschaftliche Auseinandersetzung würde bedeuten, dass man verschiedene Fachdisziplinen zusammensetzt und überlegt: »Welche Effekte spielen welche Rolle?« Das würde aber den Rahmen der Medien sprengen. Diese Vereinfachung nervt mich.
Petra Ladenburger: Die Berichte über die Fakten sind ja auch sehr unterschiedlich. Das hat sowohl Relativierungen als auch Spekulationen befördert. Ich habe für mich selber eine Woche gebraucht, bis ich eine Sprache dafür gefunden habe, weil ich immer das Gefühl hatte, ich falle einer Seite meiner Überzeugung in den Rücken oder relativiere etwas, das ich gar nicht relativieren will.
Kopetzky: Wir in Köln haben die Möglichkeit, uns eine Meinung aus erster Hand zu bilden. Außerhalb von Köln ist das anders. Ich habe Verwandte, die ihren Karnevalsbesuch wieder abgesagt haben, weil sie meinten, dass die Situation total angespannt sein werde. Ich war an Karneval viel unterwegs, aber ich habe keinen Unterschied zu früher festgestellt.
Sie alle sind seit Jahren gegen sexualisierte Gewalt aktiv. Hat sich die Politik nach Silvester mehr für Ihre Arbeit interessiert?
Kopetzky: Es steht seit längerem eine Reform des Sexualstrafrechts im Raum, für die auch unser Bundesverband »bff — Frauen gegen Gewalt« eintritt. Bislang war das Interesse daran sehr verhalten, jetzt gibt es wenigstens eine kleine Hoffnung, dass der unzureichende Entwurf nachgebessert wird.
Ladenburger: Der Gesetzesentwurf, der jetzt als Reaktion »auf Köln« präsentiert wird, liegt schon seit Monaten im Kanzleramt. Er wurde vor einem anderen Hintergrund erstellt und ist möglicherweise gar nicht ausreichend. Aber jetzt wird er als Lösung hervorgezaubert. Das finde ich bitter.
Frau Ladenburger, was gilt denn nach geltendem Recht als sexualisierte Gewalt?
Ladenburger: Es gibt einen wesentlichen Straftatbestand, der sich mit sexueller Nötigung und Vergewaltigung beschäftigt. Der stellt sexuelle Handlungen unter drei Voraussetzungen unter Strafe. Die erste ist, dass die Handlung unter Anwendung von körperlicher Gewalt passiert ist. Die zweite, dass sexuelle Handlungen mit Hilfe von Drohungen durchgesetzt werden. Das Gesetz schränkt da aber ein, dass dies Bedrohungen gegen Leib und Leben sein müssen. Die dritte Voraussetzung ist 1997 dazugekommen und besagt, dass eine schutzlose Lage des Opfers ausgenutzt wird. Damit wollte man Fälle erfassen, in denen keine Gewalt oder Drohung angewendet werden, weil die Frauen nicht zum Widerstand in der Lage sind oder Widerstand zwecklos ist. Das ist in der Rechtsprechung sehr einschränkend ausgelegt worden: Es reicht nicht aus, wenn die Frau die Lage als schutzlos empfindet. Das hat zu solchen Auswüchsen geführt, dass wenn der sexuelle Übergriff in einer Mietwohnung passiert, und in den Nachbarwohnungen potenziell Nachbarn sind, dass dann keine schutzlose Lage gegeben ist. Dann gibt es noch einen weiteren Straftatbestand, der eine niedrigere Strafandrohung hat, das ist der sexuelle Missbrauch von widerstandsunfähigen Personen. Hinzu kommt, dass es sich immer um eine sexuelle Handlung handeln muss, die »erheblich« ist. Das sehen Gerichte beim Griff an den Busen oder dem aufgedrängten Kuss häufig nicht so. Ich hoffe, dass sich jetzt die gesellschaftliche Wahrnehmung ändert, was »erheblich« ist und in Folge dessen eben auch die Rechtsanwendung.
Reicht es nicht, wenn eine Frau einfach »Nein« sagt?
Ladenburger: Bei allen vier Möglichkeiten ist nicht entscheidend, ob die Frau ihr Einverständnis mit der sexuellen Handlung erklärt oder nicht. In der Praxis heißt das, dass immer eine Widerstandshandlung feststellbar sein muss. Wenn Frauen erstarren und keinen Widerstand leisten können, wird das nicht umfasst. Auch bei der Gewalt gibt es eine Einschränkung. Sie muss das Mittel sein, um die sexuelle Handlung durchzusetzen. Ein überraschendes, gewaltsames Anfassen im Intimbereich in der Öffentlichkeit wäre laut Gesetz keine sexuelle Nötigung, sondern kann allenfalls als sexuelle Beleidigung, also Beleidigung auf sexueller Basis, bestraft werden. Das ist der aktuelle Stand. Möglicherweise wird das jetzt im Kontext der gesellschaftlichen Debatte und einer anderen Täterschaft anders.
Was ändert sich denn mit der Gesetzesnovelle?
Ladenburger: Auch im neuen Gesetz ist der Anknüpfungspunkt nicht die Frage, ob die Frau einverstanden ist oder nicht. Stattdessen wird der Straftatbestand mit der Widerstandsunfähigkeit geändert. Anknüpfungspunkt soll sein, dass eine Person aus besonderen Umständen zum Widerstand nicht fähig ist. Wenn etwa eine Frau vor Angst erstarrt oder schutzlos ist, dann fällt das unter den neuen Paragraphen, aber mit einer niedrigeren Strafandrohung als die Vergewaltigung. Ich halte das fehlende Einverständnis aber für den wichtigsten Punkt.
Benecke: Ab wann gilt Anfassen als Übergriff? Es gibt Volksfeste oder auch Diskos, wo angenommen wird, man dürfe Frauen an den Po greifen. Vielleicht werden diese Normen jetzt auch mal hinterfragt. Es gibt da, wo Massen sind, Alkohol und jüngere Männer — egal mit welchem Kulturhintergrund — Faktoren, die enthemmend wirken können.
Strobl: Das ist das Typische am Oktoberfest. Die Frauen, die da arbeiten, die müssen so einen »g’schupften Busen« haben, das gehört zur Arbeitskleidung. Und es wird als selbstverständlich angesehen, dass man da rein greifen oder auf den Arsch klopfen darf.
Joo-Schauen: Es gab ein interessantes Urteil zum Oktoberfest. Eine Frau hat einem Mann den Bierkrug über den Kopf geschlagen, weil der sie von hinten angegrapscht hat. Aber das ist nicht als Notwehr gewertet worden, weil Angrapschen nicht als Straftatbestand galt. Die Frau wurde dann mit schwerer Körperverletzung belastet. Das ist schon ein Ding.
Ladenburger: Das Urteil kenne ich nicht, kann es mir aber vorstellen. Rechtlich wäre das eine Sexualbeleidigung und sich gegen eine Beleidigung mit Maßkrug auf den Kopf zu wehren, ist laut Rechtsprechung inadäquat. Das Problem ist, dass solche Taten nur als Beleidigung gewertet werden und nicht als sexuelle Nötigung.
Joo-Schauen: Ich würde lieber eine Körperverletzungsanzeige kassieren als belästigt zu werden.
Oberbürgermeisterin Henriette Reker hat für ihre Bemerkung, eine »Armlänge Abstand« zu halten, viel Kritik eingesteckt. Was ist denn ein guter Weg für Frauen, sich zu schützen?
Kopetzky: Es wird von der Presse immer gefragt: »Was müssen Frauen tun, um sich zu schützen?« Das ist die Suche nach schnellen, einfachen Lösungen. In jedem vernünftigen Selbstverteidigungskurs wird gelehrt, dass man situationsabhängig reagieren muss. Deshalb lernt man dort eine große Bandbreite von Reaktionen und Methoden. Mittlerweile wird es ja absurd, wie Frauen denken, sich selber schützen zu können. Meine Kollegin hat neulich in der Bahn eine Frau getroffen, die nur noch mit Hammer aus dem Haus geht. Dabei kann der ganz schnell gegen sie gewendet werden.
Joo-Schauen: Lange wurde gesagt: Wenn du dich wehrst, machst du es nur noch schlimmer. Dann lässt du es lieber passiv über dich ergehen.
Strobl: Der Bahnhof war voller Menschen. Wenn ich da schreie, errege ich zumindest Aufmerksamkeit. Die jungen Herren wollten nicht verhaftet werden, von daher wäre es in dieser Situation sicher sinnvoll gewesen.
Benecke: Hoffentlich. Das kann man aber rückwirkend auch nur schwer einschätzen, weil es auch das Problem der Verantwortungsdiffusion gibt. Wenn jemand in einer großen Menge um Hilfe schreit, ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass geholfen wird, als wenn man auf einem Bahnsteig mit nur einem Pärchen steht.
Sanyal: Die Frage ist ja, was können wir gesellschaftlich als Prävention machen.
Frau Reker hat im Wahlkampf immer betont, dass sie die erste Oberbürgermeisterin werden möchte. Ist sie oder jemand anderes aus der Kölner Politik nach den Silvesterübergriffen auf Sie zugekommen und hat gefragt, was man in Köln besser machen könnte?
Kopetzky: Wir waren von Seiten der Politik vor allem einem unglaublichen Aktionismus ausgesetzt. Die stehen unter Druck, vor allem durch die Medien, und meinen, schnelle Lösungen präsentieren zu müssen, besonders für Karneval. Es gab Ideen, bei denen wir gesagt haben, das geht so nicht und auch nicht in der Kürze der Zeit. Wir müssen gut schauen, ob der Aufwand tatsächlich zielführend ist. Alle aus der Fraueninfrastruktur waren nach Silvester total am Anschlag und sind kaum mehr zu ihrer täglichen Arbeit gekommen. In so einer Situation versuche ich erstmal wieder Raum zu gewinnen, um klar und konstruktiv denken zu können. Schließlich arbeiten wir mit traumatisierten Frauen, da können wir als Unterstützerinnen nicht selbst auf dem Zahnfleisch gehen.
Joo-Schauen: Es kamen plötzlich viele Interviewanfragen. Da wir es für wichtig halten, sexuelle Übergriffe und Gewalt in der Öffentlichkeit zu thematisieren, haben wir zugesagt. Diese plötzlichen Anfragen haben uns sehr belastet, weil wir unsere Beratungsarbeit weitermachen mussten.
Kopetzky: Es hieß, wir sollten Gruppen- und Gesprächsangebote für die Betroffenen aus der Neujahrsnacht einrichten. Aber wir arbeiten bedarfsorientiert und bei uns hat sich noch keine einzige dieser Betroffenen gemeldet. Ähnlich ist das bei vielen anderen Beratungsstellen. Stattdessen haben wir viele Anrufe und E-Mails von besorgten Bürgern bekommen. Die haben Sachen gefragt wie: »Kann ich meine Tochter noch auf die Straße lassen?«
Frau Joo-Schauen, hat sich denn etwas an der Situation von geflüchteten Frauen in Köln geändert?
Joo-Schauen: Vor zwei Jahren haben wir mit der Stadt Köln gesprochen, und sie hat zugesagt, ein Heim am Severinswall nur für Frauen zu eröffnen. Bis jetzt ist aber nur eine Etage in der Herkulesstraße für Frauen reserviert, am Severinswall wohnen immer noch Männer. Wir haben auch mit der zuständigen grünen NRW-Ministerin Barbara Steffens gesprochen. Sie sagt: »Die Frauen wollen das nicht.« Aber wenn wir mit den Flüchtlingsfrauen reden, dann sagen die das Gegenteil. Manche von ihnen können ja nicht mal das Kopftuch ablegen, weil ständig Männer um sie herum sind. Oder sie gehen unter die Dusche, und dann stehen Männer davor. Und falls sie sexuelle Übergriffe erleben, dann überlegen sie sehr lange, ob sie Anzeige erstatten.
Frau Benecke, was glauben Sie als Kriminalpsychologin aus welchen Gründen so viele Männer an Silvester gewalttätig gegen Frauen geworden sind?
Benecke: Was wir von Tätern wissen, mit denen wir in Gefängnissen oder ambulant arbeiten, lässt sich nicht spezifisch auf die Situation an Silvester übertragen. Man muss individuelle Faktoren von Gruppenfaktoren trennen. In Gruppen gibt es Enthemmungen oder Dynamiken, dass jemand etwas vormacht und andere machen das nach. Außerdem ist man in der Gruppe anonym, und auch der Alkohol dürfte eine Rolle spielen.
Und wie ist das bei den Männern, mit denen Sie arbeiten?
Benecke: Manche Täter sind antisozial und haben generell kein Problem mit Normüberschreitungen. Andere haben Wahrnehmungsverzerrungen im Kopf, wie: »Die spielt nur mit mir, wenn sie sich ziert«. Bei Vergewaltigungen gibt es welche, die generell mit ihrem Leben unzufrieden und daher wutmotiviert sind. Andere haben aufgrund ihrer Biographie Frauenhass. Wieder andere nähern sich unangemessen Frauen, weil sie glauben, dass sie das Recht dazu haben. Ich habe mal einen Täter betreut, der vehement bestritten hat, seine Ehefrau vergewaltigt zu haben. Die Ehe war sehr turbulent, und sie hatten häufig Versöhnungssex. Seine Argumentation war: »An dem Abend hat sie halt ›Nein‹ gesagt, aber wir hatten doch immer Streit und Versöhnungssex.« Es gibt dann noch einen kleinen Prozentsatz von Tätern, die es sexuell erregt, sadistisch eine Straftat zu begehen. Das sind die Kategorien, aber der Einzelfall ist meistens doch komplexer.
Kann man überhaupt präventiv arbeiten?
Lydia Benecke: Eigentlich müsste man für die verschiedenen Gruppen unterschiedliche Präventionsmaßnahmen anbieten. Das ist eine deprimierende Antwort, ich weiß. In der Therapie machen wir es aber genau so. Im Hinblick auf Silvester denke ich, dass man dort mit Sozialpsychologie einiges hätte erreichen können. Zum Beispiel sollten die Leute über Verantwortungsdiffusion Bescheid wissen und durch Psychoedukation lernen, die Reaktionen ihres Gehirns richtig einzuschätzen. Das könnte man zum Beispiel in der Schule vermitteln.
Sanyal: Vergewaltiger sind ja das gesellschaftliche Gegenbild, das Schlimmste, was wir uns vorstellen können. Wenn wir über »Nein heißt Nein« sprechen, dann würde das viele Formen von Grenzüberschreitungen beinhalten. Dann müsste man auch das Bild des Vergewaltigers neu debattieren.
Ladenburger: Es gibt jetzt schon eine Differenz zwischen dem vorherrschenden Bild eines Vergewaltigers und dem, der in einer Beziehungstat tatsächlich vergewaltigt. Ein Ehepaar liegt im Bett, der Mann will Sex, sie aber nicht, und er drückt ihr die Beine auseinander — das wäre auch schon bei aktueller Rechtslage eine Vergewaltigung. Ich möchte aber nicht schätzen, wie viel Prozent der Bevölkerung den Mann als Vergewaltiger beschreiben würden. Sie würden vielleicht nicht einmal die Tat so benennen.
Sanyal: Eine Freundin von mir macht Konsenstraining, und als wir darüber geredet haben, ist mir klar geworden, dass ich auch an vielen Stellen schon Grenzen überschritten habe.
Was ist Konsenstraining?
Sanyal: Man spricht von unterschiedlichen Arten von Konsens. Eine Übung ist das Drei-Minuten-Spiel nach Betty Martin. Dazu setzt man sich gegenüber, und die eine Person sagt, was man vom anderen möchte, und fragt, ob die andere Person bereit ist, das für drei Minuten zu machen. Die überlegt dann, ob und wie sie das eventuell will. Wichtig ist bei dieser Übung, von der Intuition wegzukommen, und stattdessen das Sprechen und Nachfragen zu lernen. Intuition ist natürlich trotzdem wichtig, aber im Moment tun wir ja alle so, als könnten wir beim Sex Gedanken lesen. Wir müssten viel früher lernen, unsere Bedürfnisse verbal zu kommunizieren. Es ist dann auch leichter, Missverständnisse aus dem Weg zu räumen oder Wahrnehmungsstörungen früher anzugehen. Stattdessen wird von uns erwartet, im entscheidenden Moment »Nein« sagen zu können.
Lydia Benecke: Bei Jugendlichen und Minderjährigen ist es zum Beispiel so, dass sie leichter Opfer werden, wenn man sie manipulieren kann, als wenn sie sehr gut ihre Grenzen kennen. Dafür wäre so ein Training hilfreich. Das gilt übrigens für Jungen wie für Mädchen. In meiner Arbeit habe ich auch mit dem Mrs.-Robinson-Phänomen zu tun: Ein Mädchen oder eine Frau missbraucht einen Jungen. Er verschweigt die Tat, weil er meint, Jungen dürften keine Opfer sein, und weil das Mädchen es als Heranführen an die Sexualität darstellt. Das ist in der Gesellschaft noch nicht angekommen.
Strobl: In meiner Jugend habe ich die »Rote Zora« gelesen. Das ist ein Mädchen, das sehr stark ist. Dann gibt es einen Jungen, der ist schüchtern, unglücklich und verunsichert. Und dieser Junge muss nicht, darf aber auch schwach sein. Mit solchen Vorbildern haben es Mädchen leichter, selbstbewusst zu sein und zu sagen: Nein! Und Jungs müssten sich nicht ihre Männlichkeit beweisen, indem sie sich wie Machos verhalten.
Sanyal: Der soziale Ort spielt auch eine große Rolle. Je autoritärer eine Institution ist — Militär, Internate, religiöse Einrichtungen, Gefängnisse —, desto höher ist die Zahl der Vergewaltigungen.
Ladenburger: Das ist eine Seite. Aber die Odenwaldschule war keine autoritäre Institution. Es gibt die Gefahr auch bei denjenigen, die strukturlos und eher laissez-faire sind. Passt das auf die Institution Familie? Das wäre eine interessante Überlegung. Ich komme in meiner Arbeit immer auf die private Situation zurück, weil das der Hauptort für sexualisierte Gewalt ist. Bei Kindesmissbrauch kann man die Strukturen von Institutionen auf Familien übertragen. Aber bei Vergewaltigungen?
Benecke: Missbrauch und Vergewaltigung kann man nicht in einen Topf werfen.
Strobl: Grundlage ist seit Jahrhunderten das Selbstverständnis, dass die Frau dem Mann gehört. 1997 gab es 130 Nein-Stimmen gegen das Gesetz, dass Vergewaltigung in der Ehe zum Straftatbestand gemacht hat. Dass Frauen das Recht haben, über sich selbst zu bestimmen, ist noch immer nicht in allen Köpfen.
Eine Studie des Kriminologischen Forschunginstitut Niedersachsen behauptet, dass die Zahl der Anzeigen wegen sexualisierter Gewalt gestiegen sei, es aber weniger Verurteilungen gebe. Nehmen Polizei und Justiz das Thema ernst genug?
Ladenburger: Der rechtliche Rahmen hinkt der gesellschaftlichen Norm hinterher: Die gesellschaftliche Bewertung, was sexualisierte Gewalt ist, also »Nein heißt Nein«, ist eine andere als die rechtliche Bewertung. Oft wird eine Strafanzeige erstattet und die Staatsanwaltschaft kann, wenn die strafrechtlichen Voraussetzungen nicht vorliegen, nichts anderes machen, als das Verfahren einzustellen. Dadurch fallen viele Anzeigen unter den Tisch, ohne dass man das den Strafverfolgungsbehörden vorwerfen könnte. Die Frage der Beweisbarkeit ist in Prozessen zu sexualisierter Gewalt ein großes Problem. Das wird auch so bleiben, weil es eben Taten sind, bei denen man sich in Aussage-gegen-Aussage-Situationen befindet.
Kopetzky: Fakt ist, dass an Silvester viele Sachen angezeigt wurden, die wahrscheinlich strafrechtlich nicht relevant sind. Das macht nichts, weil man sieht, dass Übergriffe passiert sind, die bei den Einzelnen zu weit gegangen sind. Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem individuellen Erleben und dem, was nachweisbar ist. Deshalb ist es wichtig, mit den Frauen vorher abzusprechen, was das Resultat der Gerichtsverhandlung sein kann. Es gibt viele Frauen, die sich von der Situation im Gericht verarscht fühlen, weil sie mitkriegen, dass Richter, Staatsanwaltschaft und Verteidigung zu einem Kompromiss kommen. Sie haben dann häufig das Gefühl, dass sie außen vor sind und über sie verhandelt werde.
War die Debatte um die Neujahrsnacht hilfreich für ihre Arbeit?
Benecke: Ich habe den Eindruck, dass die Berichte einen Schneeballeffekt ausgelöst haben. Jetzt sind mehr Frauen zu Anzeigen bereit. Interessant ist die leider nicht sicher zu beantwortende Frage, um wieviel Prozent die Dunkelziffer reduziert wurde, weil hier Frauen
mutig genug waren, um Anzeige zu erstatten. Ohne den Medienhype wären sie vielleicht nicht mutig genug gewesen.
Kopetzky: Wäre man vorher zur Polizei gegangen, wären die Anzeigen vielleicht gar nicht angenommen worden, das kenne ich auch aus der Beratungsarbeit.
Dann hätte die aufgeregte Berichterstattung ja etwas Gutes gehabt.
Benecke: Aber wir wissen ja immer noch nicht 100-prozentig, was geschehen ist. Es gibt viel zu wenig objektive Fakten, um zu sagen, dass Punkt A, B oder C alles erklären könnte. Genau das wollen die Menschen, aber das kann man nicht seriös sagen. Das ist das Problem und das wird wegen der zunehmenden Medienhysterie immer schwieriger.
Kopetzky: Ich habe mit Journalistinnen und Journalisten aus dem In- und Ausland zu tun gehabt, die versucht haben, mich zu einer bestimmten Aussage zu drängen. Wenn ich das Gegenteil behauptet habe, sagten die: »Aber das steht doch schon in der Zeitung«. Ich sage dann: »Sie wissen doch selber, wie das zustande kommt. Ich bin hier vor Ort und ich weiß, wie das hier abgeht.«
Strobl: Was wollten die, was Sie sagen?
Kopetzky: Zum Beispiel, dass alle Täter Nordafrikaner waren. Und ich habe gesagt, es steht noch nicht fest, wer die Täter waren und es gibt auch kaum Festnahmen. Man gibt ein Interview und bestimmte Dinge werden nie gesendet. Das ist auch eine Art, Meinungen in eine Richtung zu drängen.
Benecke: Bekannte von mir, die hier geboren sind, aber dunkelhäutig aussehen, beschreiben eine interessante Veränderung im Alltag. Wenn sie in der Bahn sind und sich neben eine Frau setzen, geht die Frau weg. Das ist eine Massenhysterie, die Folgen sind katastrophal: eine steigende Aggression gegen Menschen, die anders aussehen. Es ist kaum mehr möglich, sich auf die Klärung des Ursprungssachverhaltes zu konzentrieren, der uns allen immer noch nicht vorliegt.
Kopetzky: Sexualisierte Gewalt hat es vor Silvester auch gegeben. Die Übergriffe könnte man als Anlass nehmen, um zu schauen: Wie sieht es mit dem Thema überhaupt aus, wie können wir künftig anders damit umgehen? Was kann man zum Positiven verändern?
Wie wünschen Sie sich denn, wie man damit umgehen würde?
Kopetzky: Dass die Gesellschaft wacher und sensibilisierter wird. Dass man erkennt, dass das jeden und jede Einzelne angeht und man die Verantwortung nicht einfach an andere abgeben kann. Natürlich müssen Politik und Polizei auch ihren Part übernehmen, aber ein Teil der Verantwortung liegt ganz klar bei mir als einzelner Bürgerin.