Auf dem Amboss der Schicklickeit

Ein Reader bringt eine Auswahl aus dem literarischen Werk des genialischen Dieter Roth. Anlass, über den Literaturbetrieb und seinen bösesten Parodisten nachzudenken.

In einer vollständig sinnlosen und wertlosen Welt komme es, schreibt Albert Camus, nicht länger auf Qualität an, sondern allein auf Quantität. Quantität schaffen ist die Devise des absurden Geistes. Niemand ist ihr so unbeirrbar gefolgt wie der Literaturbetrieb und sein bösester Parodist, der Künstler und Dichter Dieter Roth (1930-1998).
Wie der Betrieb, für den es niemals ein einzelnes Buch, immer gleich eine Reihe, ein Genre, eine Tendenz gibt, hat auch Roth keinen seiner literarischen Keime verdorren und aus jedem gigantische, vielfach verzweigte Bäume von Büchern sprießen lassen. Zu Beginn seiner Karriere heißen diese Buchreihen nüchtern »bók« (isländisch »Buch«), später nach Ausscheidungen des Körpers »Tränen« oder »Scheiße«, bzw. nach solchen der Natur »Wolken«.

Wandlung bis zur Erschöpfung

Wie der Betrieb, der aus einem guten Satz hundert verkorkste macht oder den einen so lange wiederholt, bis er endlich zerredet ist, wandelt Roth manche Sätze bis zur völligen Erschöpfung des Schreibers und des Lesers ab. Er ließ eine Folge von »Essays« erscheinen, die jeweils aus einem einzigen Satz bestehen, der endlos permutiert wird. Wie der Betrieb, für den der Paratext, also Autor, Titel, Untertitel, Verlag, Schrift, Klappentext, Vorwort, Nachwort wichtiger sind als der Text selbst, ersann er bizarre Autorennamen, Buchklappen, Beigaben, selbst Typografien oder Typografiewirrware. Er schrieb Bücher, nicht Texte. Maßlos wie der Betrieb ist, können seine Bücher doch neben denen des noch maßloseren Roth nicht bestehen – Roth sorgte dafür, dass sich auf einer Druckseite zwischen zwanzig und 200 Druckfehler tummeln, wo selbst heute zwei der professionelle Schnitt sind.

Weil also Roth in allem größer und konsequenter war, hat sich der neidische Literaturbetrieb mit ganz wenigen Ausnahmen nicht um ihn gekümmert. Dumont brachte 1967 Roths Hauptwerk »Mundunculum« heraus, erzwang aber, dass »Futz« in »Fuß« und »Schwanz« in »schwarz« abgeändert wurde. Luchterhand druckte 1973 einen Reader (mit einem brillanten Essay von Oswald Wiener), »Frühe Schriften und typische Scheiße«, wollte das Büchlein aber bald schon dem Ramsch überantworten. Nun legt Suhrkamp einen Reader auf, der wie das Chaos in kosmischer Auslese daherkommt, aber doch bloß entrötheter Roth ist.

Let us produce Quantities

Dass auf knapp 300 Seiten Roths Prinzip des Aufkochens und Breittretens nur mit Mühe reproduziert, also statt aller Varianten des »Lebenslaufs« oder eines »Scheisse«-Gedichts nur jeweils eine geboten werden kann, nimmt der mit Roth bereits vertraute Leser zähneknirschend hin. Hier wird ja versucht, »exemplarisch die wichtigsten Werkgruppen zu repräsentieren«. Aber es macht stutzig, wenn die Herausgeber den Mangel auch noch als Vorzug verkaufen, obwohl ihnen Roths Maxime »Let us produce Quantities« durchaus geläufig ist. Mut habe ihnen gemacht, plaudert Jan Voss in seinem ansonsten anregenden Nachwort aus, »daß Dieter Roth die Manuskripte etlicher seiner Bücher sowieso im Cut&Paste-Verfahren hergestellt und manche wiederholt und auf verschiedenste Art neu aufgemischt hat«.

Das entmutigt. Denn wenn nicht einmal die Herausgeber Roth ernst nehmen, wer dann? Warum hat er denn seine Sätze und Verse wiederholt? Warum hat er seine Manuskripte neu aufgemischt? Die Herausgeber scheinen zu glauben, er tat es, damit sie eines Tages einen »Textextrakt« oder eine »Kompilation« herstellen, »nicht als Konkurrenz, sondern als Schlüssel zu Roths eigenen Büchern«. Doch selbst wenn der Schlüssel passte, springt die Tür nicht auf, denn die meisten seiner Bücher sind selbst in großen Bibliotheken selten zu kriegen. In geringen und geringsten Auflagen hergestellt – die »Kopiebücher« jeweils in einem Dutzend Exemplare –, stehen sie in den Vitrinen von Kunstsammlern und Kuratoren, die gar nicht dazu kommen, sie zu lesen.

Reader als Schlüssel zum Gesamtwerk

Paradoxerweise wird, weil mit dem Schlüssel nicht viel anzufangen ist, aus dem Reader doch noch ein nützliches Buch: Der gemeine Leser und Roth-Fan erhält für wenig Geld Einblick in Bände, die ihm sonst unerschwinglich und unerreichbar blieben. Er muss nur nehmen, was ihm geboten wird, darf z.B. nicht auf Roths wunderbare Tränen-Inserate (»Eine Träne ist besser als ein böses Wort«, »Zwei Träne sind besser als eine Träne«, »Ein Wort ist fast so gut wie eine Träne«) hoffen, die ganz leicht hätten gelistet werden können. Er darf außerdem niemals in die bevorzugte Lage kommen zu vergleichen: Statt wie seinerzeit Luchterhand die Originalseiten einfach zu faksimilieren, wurden sie von Suhrkamp neu gesetzt und korrigiert. Die von Roth mit viel Sorgfalt bewahrten Druckfehler in den Gedichten sind beseitigt, die Typografie ist vereinheitlicht, in Versalien gesetzte Stücke werden in herkömmlicher Schreibung wiedergegeben. Roths literarisches Werk werde hier »erstmalig für Leser präsentiert«, prahlt der Verlag. Ich schwöre, dass ich einiges auch schon vorher gelesen und besser gefunden habe.

Es entbehrt nicht der Komik, dass Blätter aus dem konkretistischen Frühwerk, die nicht der Richtigstellung anheimfielen, auf den Kopf gestellt worden sind. Also doch neue Fehler, immerhin. Und immerhin sind für den, der keinen Roth-Sammler im Bekanntenkreis hat, viele Entdeckungen zu machen. Selbst in dieser Edition verfehlen die Gedichte ihre Wirkung nicht und spenden Trost. »Nun, da ich noch gütlicher bin, / wandle ich in einem guten Sinn / auf dem Amboß der Schicklichkeit dahin.«


Dieter Roth: Da drinnen vor dem Auge. Lyrik und Prosa. Herausgegeben von Jan Voss, Beat Keusch, Johannes Ullmaier, Björn Roth. edition suhrkamp, Frankfurt / M. 2005, 304 S., 10 Euro.

Stefan Ripplinger ist mit einem ausführlichen Beitrag vertreten in dem Band »Dieter Roth. Bücher + Editionen«, der mit Texten und 1500 Abbildungen umfassend das literarische Werk darstellt (bearbeitet von Dirk Dobke, Edition Hansjörg Mayer 2003 / Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 49 Euro.)