»Schulen im absoluten Notfallmodus«
Herr Becker-Mrotzek, in ein paar Wochen geht die Schule wieder los. Mittlerweile ist aber aufgrund der neu zugewanderten Schülerinnen und Schüler sozusagen jeden Tag Einschulung. Wie kommen die Kölner Schulen damit klar?
In der zweiten Jahreshälfte 2015 und im ersten Quartal 2016 waren die Schulen im absoluten Notfallmodus. Anfangs war man froh, wenn man den Kindern und Jugendlichen überhaupt einen Schulplatz anbieten konnte. In Köln und Umland sind im vergangenen Jahr 20.000 Schüler neu dazu gekommen, das ist enorm. Das war die Herausforderung der ersten Stunde.
Die Situation ist ja nicht ganz neu. In den 70ern kamen die Familien der Arbeitsmigranten, in den 90ern Kriegsflüchtlinge aus Jugoslawien. Gibt es jetzt eine spezifische Herausforderung?
Ob es nun wirklich eine spezifische Herausforderung ist, weiß ich nicht, aber diesmal kommen viele Menschen aus dem arabischen Sprachraum. Die Sprach- und Schriftsysteme sind vom Deutschen sehr viel weiter weg als etwa Italienisch oder Russisch. Aber ansonsten sind die Herausforderungen strukturell ähnlich.
Sie haben in Ihrer bundesweiten Studie »Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche im deutschen Schulsystem« verschiedene Modelle ausgemacht, wie Kinder in die Schule aufgenommen werden. Welches ist das Beste?
Wir unterscheiden fünf Modelle: Angefangen vom »submersiven Modell«, da kommen Kinder direkt in die Regelklasse ohne weitere Förderung. Das kann schwierig werden. Beim »integrativen Modell« kommen Kinder direkt in die Regelklasse, bekommen aber zusätzlichen Deutsch-Unterricht. Beim »teilintegrativen Modell« sind Kinder in einer speziellen Vorbereitungsklasse, bestimmte Fächer wie Kunst oder Sport sind gemeinsam. Am anderen Ende der Skala stehen speziell eingerichtete Vorbereitungsklassen. Es hat alles Vor- und Nachteile, momentan weiß man da noch nicht viel. Hier müssen wir mit unserer Forschung ansetzen.
Wie ist das in Köln geregelt?
Wenn ich es richtig überblicke, operiert Köln bei den Grundschulen mit der Integration in bestehende Klassen. In der Sekundarstufe 1 sind bislang Vorbereitungsklassen die Regel und direkte Integration die Ausnahme. Die Schüler sollen in den parallel geführten Vorbereitungsklassen ein, maximal zwei Jahre bleiben und dann übertreten. Der neue Erlass der Landesregierung, nach Möglichkeit keine Klassen mit ausschließlich neu Zugewanderten einzurichten, betont den Integrationsauftrag. Dies kann etwa dadurch umgesetzt werden, dass die neuen Schülerinnen und Schüler möglichst von Anfang an einen Teil des Unterrichts in Regelklassen haben.
Köln hat ohnehin zu wenig Plätze an weiterführenden Schulen. Gibt es ein Konzept für die Zeit nach den Vorbereitungsklassen?
Wenn man wie hier in Köln sehr viele Vorbereitungsklassen hat, steht man vor großen organisatorischen Problemen. Man muss bestehende Klassen teilen, um Schüler aus den Vorbereitungsklassen zu integrieren. Die inhaltliche Herausforderung besteht darin, dass die meisten zugewanderten Kinder nach ein oder zwei Jahren in der Vorbereitungsklasse dem Unterricht noch nicht so folgen können wie ihre Mitschüler. Das dauert unter guten Bedingungen fünf bis sieben Jahre, viele müssen ein neues Schriftsystem erlernen. Generell ist es wichtig, auf die Potenziale zu blicken: Nicht zu denken, was können sie nicht, sondern was bringen sie mit.
Was ist mit den über 18-Jährigen, die aus der Schulpflicht rausfallen?
Auf diese Gruppe — die überproportional groß ist — ist das System nicht vorbereitet. Da haben wir keine guten Angebote, so dass sie etwa gleichzeitig einen Schulabschluss nachholen, Deutsch lernen, und auf eine Ausbildung vorbereitet werden. Unter den Geflüchteten wollen viele Geld verdienen, um ihre Familie in der Heimat zu unterstützen. Es ist schwierig, sie für eine Ausbildung zu motivieren, weil sie da weniger verdienen als bei einem Hilfsjob. Da müssen wir Anreize schaffen.
In Köln dauert es oft einige Monate, bis Kinder und Jugendliche nach ihrem Ankommen auch tatsächlich eine Schule besuchen. Seit Mai warten 138 Schüler im Sekundarbereich auf einen Platz.
Unsere Haltung ist: Die Schulpflicht muss unabhängig vom Aufenthaltsstatus möglichst schnell umgesetzt werden, die Wartezeit darf nicht länger als drei Monate dauern. Die Kinder und Jugendlichen haben oft eine monatelange Flucht hinter sich, je länger sie aus dem Lernmodus draußen sind, desto schwieriger ist es, wieder reinzukommen. Dann wird auch der Unterschied zwischen Lernalter und biologischem Alter immer größer. Wenn man als Zwölfjähriger mit Zweitklässlern zusammensitzt, ist das nicht witzig.
Prof. Michael Becker-Mrotzek ist Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache an der Universität zu Köln. Er ist einer der Autoren der Studie »Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche im deutschen Schulsystem«, die Ende 2015 publiziert wurde.