Der doppelte Exzess
Am 14. Juli wollte der Parlamentarische Untersuchungsausschuss zur Silvesternacht im Landtag eigentlich die Sommerpause einläuten. Über 100 Zeugen hatten die Parlamentarier schon gehört, darunter NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und Innenminister Ralf Jäger. Doch nun hörten sie eine Geschichte, die sie weiter beschäftigen wird. Frauke Mahr von der Kölner Initiative »Lobby für Mädchen« erzählte die Geschichte einer jungen Frau, die Silvester am Kölner Hauptbahnhof von einem jungen Mann zum Geschlechtsverkehr gezwungen wurde. Ein Polizist kam ihr zur Hilfe, Anzeige hat sie nicht erstattet — die Scham war zu groß.
Es ist das erste Mal, dass die Geschichte der jungen Frau an die Öffentlichkeit gelangt. Bis Mitte Juli sind bei der Staatsanwaltschaft Köln 1.195 Anzeigen eingegangen, davon 501 wegen sexueller Übergriffe und davon 21 wegen Vergewaltigung — »wegen Einführen eines Fingers«, wie Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer erklärt. »Der Fall aus dem Ausschuss war uns nicht bekannt.«
Nach der Sommerpause setzt der Ausschuss die Befragung von Opfern fort, bevor er Ende März 2017 seinen Abschlussbericht vorlegen will. Dennoch lässt sich bereits der Schluss ziehen, dass das Vorgehen der Bundespolizei, die für das Bahnhofsinnere zuständig ist, und der Kölner Polizei nur unzureichend abgestimmt war. Gleichzeitig verzettelt sich der Ausschuss in Detailfragen, etwa wann genau Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und Innenminister Ralf Jäger (beide SPD) über die Übergriffe informiert waren. Die Jäger unterstellte Landesleitstelle der Polizei soll zudem mit einem Anruf bei der Kölner Polizei am 1. Januar versucht haben, das Wort »Vergewaltigung« aus einer Polizeimeldung zu entfernen. Der Vorwurf ist Gegenstand einer Sondersitzung im August.
Auch Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker war Anfang Juli in Düsseldorf vorgeladen und erklärte, die Stadt Köln habe in der Silvesternacht keine Fehler gemacht. Die Stadt ist allerdings für das Sicherheitskonzept auf der Hohenzollernbrücke zuständig, die so überfüllt war, dass Menschen auf die Gleise flohen. Dieses Jahr wird die Hohenzollernbrücke an Silvester gesperrt sein — ein unausgesprochenes Schuldeingeständnis.
Der symbolischen Betrachtung der Silvesternacht tut die Faktenfindung des Untersuchungsausschusses keinen Abbruch. Am stärksten wird dies in den Texten von Alice Schwarzer deutlich. Sie betrachtet die Übergriffe von Silves-ter als das Werk »weniger Provokateure«, die die »vom Islamismus Infizierten« — die nordafrikanischen Täter der Silvesternacht — per Social Media dazu getrieben haben, ihren »verschärften Männlichkeitswahn« an den Frauen in Deutschland auszuleben. Beweisen kann sie dies nicht. »Schwarzer argumentiert an der Sache vorbei«, findet Martin Zillinger, der an der Universität Köln über Migration aus den Maghreb-Staaten forscht. »An Silvester ist eine spezifische Situation eskaliert: Junge, alkoholisierte Männer treffen auf eine überforderte Polizei. Aber das wird sich nicht so schnell wiederholen.« Zillinger spricht von einem »doppelten Exzess« der Silvesternacht: dem Exzess der sexualisierten Gewalt und einem Exzess im Diskurs. Nun komme es auf eine Bestandsaufnahme an, gerade was die Migration aus Nordafrika angeht. »Da kommen ganz unterschiedliche Motivationen und Hintergründe zusammen«, erläutert er. »Wir müssen reelle Zugangsmöglichkeiten schaffen, damit die Migration kontrollierbar wird.« Der Plan der Bundesregierung, die Maghreb-Staaten zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären, sei dagegen falsch, so Zillinger. »Ein Staat wie Marokko ist kein sicheres Herkunftsland. Dort verschwinden Menschen und es wird gefoltert.«
Die Reform des Sexualstrafrechts nach Silvester wird jedoch von vielen Beteiligten begrüßt. »Der Entwurf war ja schon lange fertig, wurde aber nur nicht umgesetzt«, berichtet Irmgard Kopetzky vom Notruf für vergewaltigte Frauen. Jetzt gilt zum ersten Mal der Grundsatz »Nein heißt Nein«. Gemeinsam mit dem Bündnis »Lila in Köln« kritisierte sie im Mai, das Engagement der Stadt Köln gegen sexualisierte Gewalt sei nicht nachhaltig. Daraufhin habe sich Oberbürgermeisterin Reker mit ihnen getroffen, doch konkrete Pläne gebe es noch nicht. Konkrete Konzepte fehlen ebenfalls für die Unterbringung von Frauen, die nach Köln geflohen sind. »Die Situation in den Turnhallen ist immer noch schlecht«, berichtet Denise Klein von der Hilfsorganisation Agisra. Das Sicherheitspersonal sei nicht ausreichend geschult, teilweise komme es zu Avancen gegenüber Frauen. Und auch in der Justiz sei das Bewusstsein für sexualisierte Gewalt noch nicht ausgeprägt, berichtet Denise Klein: »Ich kenne Frauen, die seit zweieinhalb Jahren auf den Beginn ihres Verfahrens wegen sexueller Übergriffe warten.« Bei den Übergriffen von Silvester sind die ersten Urteile schon gefällt.