Foto: Dörthe Boxberg

»Sattwerden ist leider immer noch die Hauptsache«

 

Edith Gätjen berät Eltern und Kitas zu gesunder Ernährung. Ein Gespräch

über Kita-Essen, die Lebensmittelindustrie und gestresste Eltern

Frau Gätjen, Essen ist doch einfach. Sie aber sagen, Kinder müssten Essen erst lernen.

 

Es geht nicht um die Technik, etwa vom Saugen an der Brust auf feste Nahrung umzustellen. Es geht auch darum,  eine Ernährungsweise zu erlernen, die der Gesundheit förderlich ist. Das müssen wir lernen, weil wir evolutionsgeschichtlich noch anders gepolt sind: Wir sind auf der Suche nach Süßem, denn es ist nährstoffreich und nicht giftig, und nach Salzigem, denn das war früher rar. Früher vermied der Mensch saure oder bittere Nahrung, denn das war meist ein Indiz für Verdorbenes oder Giftiges. Und Kinder sind stets auf der Suche nach konzentrierter Energie?...

 

Was bedeutet das?

 


Kinder haben einen ganz kleinen Magen, aber einen sehr großen Energiebedarf. Deshalb wollen sie Essen, das ein geringes Volumen, aber viel Energie besitzt — damit sie satt werden, und um zu wachsen. Hinzu kommt, dass die Menschen früher nicht wussten, wann sie überhaupt das nächste Mal Essen bekommen würden. Also sammelte man konzentrierte Energie. 

 

Was ist schlimm daran, wenn Kinder das heute tun?

 

Wenn Kinder konzentrierte Energie, Süßes und Salziges wollen, dann passen in dieses Schema Brokkoli-Röschen nicht hinein. Was ins Schema passt, sind Pommes, Fleischwurst und Schokolade. Die Lebensmittelindustrie nutzt das aus: Süßes, Salziges, konzentrierte Energie. Kinder müssen also lernen, die biologischen Programme und Gesundheitsprävention unter einen Hut zu bringen. Und das geht nur über Esserziehung.

 

Sie sagen, die Lebensmittelindustrie trage nicht nur Schuld daran, dass Kinder falsch ernährt und krank werden, sondern verderbe ihnen auch den Geschmackssinn.

 

Ja, die Industrie präsentiert ihre Produkte immer mit dem gleichen Geschmack und Aussehen. Das kommt der kindlichen Neophobie entgegen. Diese Angst vor Neuem steckt in jedem Kind, sie war früher einmal ein sinnvoller Schutz davor, sich nicht einfach alles in den Mund zu stecken und herunterzuschlucken. Aber heute ist diese Neophobie in der Ernährung nicht mehr hilfreich. Es gibt bei uns strenge Lebensmittelkontrollen, wir werden uns also nicht vergiften, wenn wir Neues ausprobieren und unseren Geschmack erweitern. 

 

Wie entwickeln Kinder Vorlieben?

 

Wie lässt sich Neugierde und Spaß am Essen wecken? Die Geschmacksbildung beginnt bereits ab der achten Schwangerschaftswoche. Die Kinder »essen« schon mit, sie erlernen den Geschmack der Mutter. Auch in der Stillzeit sind die Ernährungsvorlieben der Mutter entscheidend, so werden bereits geschmackliche Vorlieben geprägt.

 

Viele Eltern ernähren sich zwar selbst nicht gesund und greifen zu Fertiggerichten, aber ihre Kinder bekommen gutes Essen.

 

Das kann nicht funktionieren! Eltern sind beim Essen nicht nur Vorbilder, sondern Vorleber, 24 Stunden täglich. Nur wenn die Eltern sowohl eine gute Beziehung zum Kind als auch zum Essen haben, kann auch das Kind eine gute Beziehung zum Essen bekommen. Die Eltern zeigen Kindern, was und wie man isst. 

 

Sie sprechen damit auch die Esskultur an, die Aufmerksamkeit für Essen und Tischsitten. Die ist auch bei Menschen oft gering, die ansonsten auf gesunde Ernährung achten. Man isst seinen vegetarischen Bio-Snack im Gehen und telefoniert dabei.

 

Beim Essen geht es aber nicht nur darum, die Nährstoffbilanz auszugleichen. Essen hatte immer auch eine soziale Funktion, indem es Gemeinschaft stiftet und Regeln vermittelt. Zudem hat Essen eine  psychologische Funktion, weil es an das Bedürfnis nach Wertschätzung oder Liebe gekoppelt ist. Und schließlich hat Essen auch eine pädagogische Funktion: Kinder lernen, wo Lebensmittel herkommen, wie sie zubereitet werden. Nur wenn alle diese Funktionen erfüllt sind, ist der Mensch wirklich satt. Ansonsten bleibt das Kind hungrig und isst dann einfach immer weiter. Wir kennen das, wenn Kinder und Jugendliche allein vor dem Computer essen. So entsteht zum Beispiel Übergewicht. Daher ist es so wichtig, gemeinsam einzukaufen und zu kochen und gemeinsam zu essen. Es ist die hauptsächliche Bildungs- und Beziehungszeit mit den Kindern. 

 

Aber Eltern sind immer weniger mit ihren Kindern zusammen. Was bedeutet das für die Ernährung von Kindern bei Tagesmüttern, in Kitas und Schulen? Können Eltern überhaupt Einfluss auf die Esskultur der Kinder nehmen?

 

Auch wenn Kinder viele Mahlzeiten auswärts essen, wird doch mindestens abends und das ganze Wochenende zu Hause gegessen. Die Verantwortung teilen sich also Kita und Eltern. Wobei die Eltern hauptsächlich das Verhältnis des Kindes zum Essen prägen. 

 

Sie gehen auch regelmäßig als Ernährungsberaterin an Kitas. Sind sie geschockt?

 

Es gibt vorbildliche Kitas! Die kümmern sich nicht nur um das Was, sondern auch um das Wie, also um Esserziehung. Aber in vielen Kitas ist leider immer noch die Hauptsache, dass die Kinder satt werden. Das liegt auch an den Eltern: Die holen die Kinder ab und fragen die Erzieherinnen, ob ihr Kind gegessen habe. Nach dem Motto: Ich bezahle hier täglich 2,50 Euro und mein Kind ist nicht satt?! Wie kann das sein?

 

Gutes Kita-Essen für 2,50 Euro? Wie soll das gehen?

 

Wenn man für den gleichen Preis gutes Essen haben will, dann muss man weg von diesen riesigen Fleischmengen und stattdessen mehr Hülsenfrüchte und Getreide einsetzen sowie saisonal und regional kochen. Aber Kitas benötigen auch mehr Personal, das kocht und dafür ausgebildet ist. Denn da legen wir den Grundstock für die Gesundheit der Kinder. 

 

Welche Rolle spielen Erzieherinnen?

 

Natürlich auch eine große, allerdings haben die auch unterschiedliche Ess-Biografien, und das strahlt auf die Kinder ab. 

 

Ein weiterer Einfluss auf die Esskultur ist die Werbung. Bei den Lebensmittelkonzernen sind Spezialisten angestellt, um mit psychologischen Tricks Kinder zu ködern.

 

Ganz wichtig: Eltern, und nicht die Kinder, müssen entscheiden, was in den Einkaufskorb kommt! 

 

Die Kinder werden quengeln!

 

Studien belegen, dass in Deutschland 60 Prozent der Kinder mit entscheiden, was eingekauft wird. Das ist grotesk! Es gibt Dinge, die Kinder entscheiden dürfen. Aber die Eltern sollten die Regeln aufstellen, sie haben die Erziehungspflicht. Sie schreiben auch den Einkaufszettel, und der gilt. Eltern können aber etwa im Supermarkt ihre Kinder mit Aufgaben betrauen, zum Beispiel die Spaghetti holen oder Preise vergleichen.

 

 

Manche Eltern sind genervt, weil sie einen moralischen Druck spüren, wenn ihr Kind gesunde Lebensmittel bekommt oder Convenience isst.

 

Wer keine Lust hat, sein Essverhalten zu ändern, den kann man nicht bekehren. Als Ernährungsberaterin kann ich nur jene erreichen, die sich motivieren lassen. Aber man kann ja in kleinen Schritten vorgehen. Auf fünf Portionen Obst oder Gemüse täglich zu achten, wäre schon ein Anfang. Dann sind immer noch Fleisch aus konventioneller Produktion, Weißbrot und Süßigkeiten dabei. Oder aber darauf zu achten, dass Getränke, Milchprodukte und Zerealien beim Frühstück ungesüßt sind. Dann hat man schon viel erreicht.