Nachtisch #89

Trockenübungen

Neujahr ist der höchste Feiertag der Selbstoptimierung. Mehr Sport und mehr Lesen. Weniger Arbeiten und, na klar, weniger Alkohol. Am Ersten des Jahres schlägt der liebliche Sekt des Vorabends durch. Der »Dry January« kann kommen. Nie hatten es Abstinenzler leichter als dieser Tage: »Sober curious« nennt sich der neue Lifestyle und sein Trendprodukt ist alkoholfreier Schnaps. Nachdem Pils oder Weizen ohne Prozente zur Massenware geworden sind, wachsen nun Angebot und Nachfrage an alkoholfreien Spirituosen. Sie sollen aussehen und schmecken wie Schnaps, aber kein Schnaps sein. Die Antwort auf die Frage, was man trinkt, wenn man nicht trinken will. Der Fleischersatz für den Trinker!

Das passt zum Zeitgeist von einem achtsamen und gesundheits­bewussten Leben. Alkoholfreier Schnaps soll zudem Menschen ansprechen, die aus religiösen oder gesundheitlichen Gründen auf Alkohol verzichten. Außerdem Schwangere oder den Fahrer zur Dorfdisco, auf dessen Rückbank Wodka-Energy gebechert wird.

Neu ist die Idee nicht: Schon vor 20 Jahren tauchten die ersten schottischen Whiskeys mit klassischen Zutaten wie Gerste, Roggen und Weizen auf, die unvergoren und damit alkoholfrei blieben. Mittlerweile sind vor allem alkoholfreie Gins gefragt. Deren Herstellungsverfahren variiert. Manche Produzenten entalkoholisieren gewöhnlichen Gin, andere Anbieter verzichten komplett auf eine Destillation. Wieder andere destillieren die für die Herstellung von Gin üblichen Kräuter wie Wacholder, Basilikum oder Rosmarin mit Wasser. Das erinnert an Getränke aus der orientalischen Küche, bei denen Rosenblättern oder Nana-Minze mit Wasserdampf Aromen entzogen werden.

Es wäre aus kulinarischer Perspektive wünschenswert, dass alkohol­freie Getränke endlich einen ebensolchen Stellenwert bekämen wie alkoholische. Von alkoholfreiem Schnaps zu sprechen, ist indes bloß findiges Marketing. Antialkoholische Getränke aus Kräutern oder Getreide machen sich kleiner, als sie sein müssten, wenn man sie nur als Ersatzprodukte für Fusel versteht.

An Wirkungstrinkern, die Erinnerungen und Hemmungen mit Schnaps runterspülen, zielt der Trend der Nüchternheitsneugier ohnehin vorbei. Die Alkoholindustrie wirkt unbeeindruckt. Laut Bundesverband der deutschen Spirituosenindustrie ist der Spirituosenkonsum unverändert hoch. 2018 lag er bei 5,4 Litern pro Kopf.