Verkorkst

Nachtisch #91

 Zwei Paare nehmen Platz in einer Weinbar in der Kölner Innenstadt. Nachdem die Karte ausführlich studiert worden ist, werden verschiedene offene Weine bestellt. Die Sommelière serviert zunächst einen Probeschluck und wartet geduldig, während die Gäste verkosten, abwägen, nochmals verkosten und schließlich zu einem Urteil kommen: Von den drei ausgesuchten Weinen treffen zwei nicht ihren Geschmack: »Der ist irgendwie ... ja, wie soll ich das sagen? Den hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt!« Umgehend wird ein neuer Wein ausgesucht, verkostet und dann für gut befunden.

Plötzlich hat der Probierschluck — heute Anachronismus, weil er aus einer Zeit stammt, in der Weinfehler noch nicht durch digitale Steuerung und Schraubverschlüsse weitestgehend ausgeschlossen waren — eine ganz neue Bedeutung. Denn lange Zeit war das Probieren von Wein in Deutschland ein hübsches, wenn auch eher belangloses Ritual. Die Kompetenz lag in der Regel beim Kellner oder Sommelier, denn, so heißt es im Benimmbuch-Klassiker »1 × 1 des guten Tons« von 1960: »Die Weinkarte mit wirklichem Verständnis zu lesen, wird immer nur dem Kenner möglich sein. Denn nur er allein weiß über die einzelnen Weinanbaugebiete, die Jahrgänge, die Kellereien Bescheid.« Der Rest bekam das Etikett Weinbanause verpasst und nahm zumeist dankbar die Empfehlungen des Hauses an.

Das müffelt vielleicht zunächst einmal sehr nach Wirtschaftswunder. Aber noch 2008 versucht der Ratgeber »Wein für Dummies« Gästen die Angst vor der Weinpräsentation zu nehmen: »Die gesetzte Stimme des Kellners, die einstudierten Handgriffe — all diese Ernsthaftigkeit könnte einen oftmals zum Lachen bringen (aber wie in der Kirche wäre ein Lachen hier nicht angebracht).« Ein gutes Jahrzehnt später hat die gastronomische Demokratisierung auch den Umgang mit den Weinkarten erfasst, die Gäste sind selbstbewusst geworden und hinterfragen die Auswahl. Das ist gut, denn das Trinken von Wein ist und bleibt im ersten Moment eine Frage des persönlichen Empfindens. Dahinter aber liegt eine Welt, die nur mit Erfahrung, Gewöhnung, manchmal auch mit Überwindung und Disziplin erschlossen werden kann. Um diesen Zugang zu finden, täten wir allesamt gut daran, hin und wieder den Fachkräften am anderen Ende der Flasche zu vertrauen.