Kochen mit Trigger-Punkten: Joachim Wisslers Carpaccio von Bretonischen Schwertmuscheln mit Buttermilch-Vinaigrette und Liebstöckel

»Meine Gäste sollen Freude empfinden, nicht Ehrfurcht«

Spitzenkoch Joachim Wissler vom Vendôme auf Schloss Bensberg hatte fast zwanzig Jahre lang drei Michelin-Sterne inne, mehr geht nicht. Dieses Jahr ­wurde ihm ein Stern aberkannt — das erschien vielen Gästen und Gastro-Kritikern unverständlich, doch für Wissler war es Anlass, sein Konzept zu erneuern.

Im ­Interview spricht er über vegetarische Spitzenküche, Luxusprodukte und Nachhaltigkeit und darüber, wie man es schafft, dass Tofu schmeckt

Herr Wissler, Sie bieten im Vendôme nun zwei Menüs — eines davon rein vegetarisch, was auf diesem Niveau immer noch ungewöhnlich ist. Wie schwierig ist es, vegetarische Sterne-Küche zu kreieren?

Das ist schon eine Herausforderung. Unsere Gäste wollen ja Kreativität und Innovation erleben, und wir wollen Begeisterung entfachen — das ist bei vegetarischen Gerichten schwieriger, weil die sonst dominante Komponente, eben Fisch, Fleisch oder Meeresfrüchte, fehlt und man also andere Zutaten zusammenfügen muss, um wieder ein ausbalanciertes Gesamterlebnis zu schaffen.

Wie machen Sie das?

Es gibt Trigger-Punkte. Man muss herausfinden, mit welchen Zutaten, man das bewirken kann. Nehmen sie die Geschmacksqualität Umami, also jenen fülligen Geschmack, den man sonst meist durch Fleisch erreicht. Das musste auch ich mir nach all den Jahren und in meiner Position erarbeiten, wie man das auf entsprechendem Niveau vegetarisch erreichen kann, etwa mit bestimmten Pilzsorten, eigenen Sojasaucen oder auch Röstaromen. Das ist neu, aber auch spannend und nicht alltäglich.

Die typischen Luxusprodukte der Hochküche sind gerade nicht vegetarisch: bretonischer Hummer, Wagyu, Steinbutt, Imperialkaviar...

Das sind ja auch alles wunderschöne Lebensmittel, die man als Koch sein Leben lang verarbeitet und zubereitet hat, wodurch sich ein großer Erfahrungs­schatz angesammelt hat, so dass man weiß, wie man sie kombiniert und wie sie zueinander passen. Für die vegetarische Küche muss man sich vieles erst erarbeiten — das ist ein enormes Potenzial, kostet aber auch Anstrengung.

Ein großes Thema in der Spitzenküche ist die überraschende Kombination von Aromen, was sicher auch für die vegetarischen Gänge interessant ist.

Ja, das ist so. Auch bei uns freuen sich die Menschen über das Zusammenspiel von Aromen, gerade wenn es ungewöhnliche Kombinationen sind, die sie noch nicht geschmeckt haben. Für viele ist das eine wertvolle Erfahrung. Die zu ermöglichen, ist auch unser Credo, auch wenn wir viele Ankerpunkte in der traditionellen Hochküche haben. Wir wollen durchaus auch die Kontroversen auf dem Teller. Wir wollen unsere Gäste geschmacklich positiv provozieren.

Woher beziehen Sie Ihre Inspirationen dafür?

Der Blick in die Ferne lohnt natürlich immer. In den Ländern, wo Gemüse einen größeren Stellenwert hat als in Deutschland, erzeugt die vegetarische Küche unglaubliche Spannung: im Orient, in China, Indien, Japan — da ist der Gemüsekonsum auch vielfältiger als bei uns.

Und dann kombiniert man, sagen wir mal, Blumenkohl mit Datteln?

Ja, zum Beispiel. Dann kommt noch etwas Zimt und Curry dazu und dann hat man als Grundlage ein vegetarisches Gericht, das in der marokkanischen Küche gang und gäbe ist.

Haben Sie solche Aromakombinationen gedanklich abgespeichert und wissen dann schon, wie’s schmeckt, so wie Komponisten ihre Musik schon hören, bevor sie erklingt?

Man hat Erfahrungen, das ja. Aber es muss immer alles ausprobiert werden. So habe ich übrigens auch gute Erfahrungen mit Tofu gemacht.

Wie bitte? Mit Tofu?

Ja, der gilt ja für viele als geschmacklich bedeutungslos. Aber wenn man Nigari nutzt, was aus Meerwasser gewonnen wird und das Gerinnen der Sojamilch erzeugt, dann kann man den Geschmack und auch die Konsistenz des Tofus steuern, etwa so, dass er auch eine schöne Cremigkeit hat. Außerordentlich gut gefällt mir unser Tofu aus geräucherten Salzmandeln mit einem Gelee von frischem Selleriesaft sowie Butternut-Kürbis und einer Vinaigrette mit selbst hergestellter Essenz aus Kamillenblüten, so kommt Dynamik zustande.

Welche Rolle spielen heimische, oft vergessene Gemüsesorten?

Pastinaken, Topinambur, Haferwurzeln oder ähnliches spielen in unserer Küche schon seit Jahr und Tag eine große Rolle. Heute sind sie geläufiger. Trends entstehen immer in den kulinarischen Brennpunkten — und werden dann von der verarbeitenden Lebensmittelindustrie aufgenommen, bis man die Dinge im Supermarkt bekommt. Zartbitterschokolade mit Chili gab es in Deutschland zuerst in guten Restaurants, dann sickerte die Idee nach unten in die Breite durch.

Sie wollen auch nachhaltiger werden.Geht das in der globalisierten Spitzenküche überhaupt, wenn es doch, wie Sie auch sagen, um aromatische Innovationen, neuen Geschmack geht?

Den bekommen Sie ja nicht nur durch regionale Gemüse. In einem Satz: Nachhaltigkeit ist immer standortbedingt. Je weiter man den Kreis zieht, um mit bestimmten Zutaten zu arbeiten, desto schwieriger wird es. Man kann darauf achten, klar. Ob ich nun eine Bernsteinmakrele nehme, die vor Holland gefischt wurde, oder eine australische oder japanische Hamachi, ist schon ein Unterschied. Nicht nur weil man dann das Flugzeug für den Transport braucht, auch in der Qualität.

Zur Nachhaltigkeit könnte es auch gehören, vom Tier nicht nur die scheinbar besten Stücke zu essen, sondern alles zu verwerten. Innereien aber sind in Deutschland heute verpönt. Bei Ihnen stehen Lunge, Hirn oder Nieren aber immer wieder auf der Karte.

In anderen Ländern gibt es Innereien in jeder guten Metzgerei. Hierzulande findet man sie kaum noch, weil die Leute sie verschmähen.

Warum ist das so?

Die Menschen können in Deutschland eine unglaubliche Vielfalt nutzen, und sie wollen immer nur das edelste Stück essen. Traditionelle Gerichte mit Innereien und deren finessenreiche Zubereitung ist in den Haushalten total verkümmert. Selbst Nieren kann kaum noch jemand zubereiten. Aber dieser Konsumgedanke, immer nur das beste Stück essen zu wollen, der wird auch mal sein Ende finden.

Auf der anderen Seite gibt es Foodies, und das kulinarische Knowhow ist zum Statussymbol geworden.

Viele Gäste sind also gut informiert oder glauben zumindest, es zu sein. Der Gast ist mündig geworden in den letzten Jahren. Die Menschen sind gereist, haben viel gesehen. Das hat in den Restaurants an der Spitze eine unglaubliche Dynamik entfacht. Zum einen, was den Anspruch der Gäste betrifft. Zum anderen aber schauen auch die Köche nicht mehr nur nach Frankreich. Der flächendeckende Steinbutt in der Spitzengastronomie hat ausgedient — heute haben viele Köche eine eigene Philosophie entwickelt und sich damit auch ein Standing erarbeitet.

Es hat sich vieles geändert in der Sterne-Gastronomie. Aber ist auch Ihr Publikum auf Schloss Bensberg bereit für neue Konzepte, etwa das vegetarisches Menü?

Mein enormer Vorteil ist, dass ich seit zwei Jahrzehnten ein treues Stammpublikum habe. Nachteil ist, dass neue Wege und Veränderungen nicht immer akzeptiert werden. Unser Publikum wird sich daher ändern, auch verjüngen. Aber es dauert vielleicht noch, bis sich die Erkenntnis durchsetzt, dass auch auf einem hohen Niveau vegetarische Küche möglich und auch hoch spannend ist.

Ein Trend ist auch die alkoholfreie Getränkebegleitung. Woher kommt die Nachfrage?

Es gibt Gäste, die gern Wein trinken, aber das etwas reduzieren, andere sind vielleicht in hoffnungsvoller Erwartung auf eine Familie oder müssen noch ans Steuer, und es gibt andere, die vielleicht gesundheitsbedingt Alkohol nicht trinken dürfen. Auch denen möchten wir etwas bieten, das nicht konfektioniert aus der Flasche kommt. Wir arbeiten daher wie eine Manufaktur, mit Blüten, Kräutern, Essenzen. Wir setzen das selbst an, mit Wasser, Kefir, Kombucha, und es ist saisonal, gerade etwa nutzen wir Vogelbeeren.

In einem Restaurant wie dem Vendôme ist die Vielfalt in den Gängen sehr groß. Nun klagen aber Gastronomen, dass immer mehr Gäste sagen, bestimmte Zutaten nicht essen zu können, weil sie dagegen allergisch seien. Haben auch Sie damit zu tun?

Oh, ja, sehr oft sogar. Aber wir stellen nun unser Reservierungssystem so um, dass unsere Gäste das bereits angeben können, wenn sie tatsächlich eine Allergie haben, so dass bestimmte Zutaten ihre Gesundheit beeinträchtigen könnten, um es mal vorsichtig zu sagen. Ich kann aber unmöglich darauf eingehen, wenn ich das erst in dem Moment erfahre, wo meine Gäste hier Platz nehmen.

Welche Bedeutung hat die Gastlichkeit in einem Restaurant, das ein so hohes kulinarisches Niveau bietet?

Noch immer halten viele Menschen Sterne-Restaurants für steif. Bei Ihnen war das nie so, da konnte man zwischen zwei Gängen den Service auch mal nach den Fußball­ergebnissen fragen. Ich denke, dass sich in der Sterne-Küche in den letzten Jahrzehnten vieles geändert hat und auch noch weiter ändern wird. Auch bei uns im Vendôme. Allein schon wegen des  vegetarischen Menüs, das spricht eher eine jüngere Klientel an. Das ist einfach so, auch wenn wir mit dieser Entscheidung nicht darauf spekuliert haben. Die Klientel gestaltet ihren Abend dann vielleicht auch kommunikativer, so dass sich alle wohlfühlen beim Essen, und es wird auch niemand schief angeschaut, wenn er in der Unterhaltung mal lachen muss. Das passt auch, und das ist schön. Meine Gäste sollen beim Besuch Freude empfinden, nicht Ehrfurcht.

Die Gerichte unserer Kindheit prägen uns — auch wenn man später Sterne-Koch wird. Was ist das Festessen Ihrer Kindheit?

Ich bin auf einem Bauernhof auf der Schwäbischen Alb groß geworden. Mein Festessen war immer der Rinderbraten am Sonntagmittag. Bei uns hatte der aber Seltenheitswert, denn es wurde nicht viel Fleisch gegessen, obwohl das Fleisch ja quasi im Stall stand. Und danach dann den Weltklasse-Käsekuchen meiner Mutter! Aber den gab es wirklich nur am Sonntagnachmittag, genau wie den gedeckten Apfelkuchen.