Rheinische Zellkultur

2001 ist das Jahr der Biopolitik. Die Niederlande führen das Recht auf Sterbehilfe ein, Versicherungen fordern den obligatorischen Gentest und keine Debatte wird so lang anhaltend und umfassend geführt wie die über Nutzen und Gefahren von Stammzellforschung und therapeutischem Klonen. Genügend Gründe für eine Serie, die bis zum Jahresende das Thema Biopolitik aufgreifen wird. Den Anfang macht Eva Richter, die sich für uns in die Labore der Stammzellforschung im Rheinland begeben hat.

Die Erzeugung von embryonalen Stammzellen ist in Deutschland verboten, deren Einfuhr hingegen nicht. Eine Gesetzeslücke, die viele nutzen möchten, um hierzulande Stammzellforschung betreiben zu können. Doch daran scheiden sich die Geister. Auf der einen Seite stehen die Forscher, die in den »zellulären Alleskönnern« die Heilsbringer der Zukunft sehen, mit denen man Krankheiten wie Krebs, Multiple Sklerose, Alzheimer und Diabetes endlich in den Griff bekommen kann. Auf der anderen Seite diejenigen, die davor warnen, menschliche Embryonen als »Ersatzteillager« für die Forschung zu missbrauchen. Sie befürchten zudem, dass mit der Forschung an menschlichen Embryonen Tür und Tor zu einer künftigen Selektion unerwünschten Lebens und zum künstlich hergestellten »Supermenschen« geöffnet wird. Die Kluft zwischen beiden Positionen scheint unüberbrückbar und sie zieht sich quer durch alle Parteien, wie die Debatte über Gentechnik und Bioethik im Bundestag gezeigt hat.

fortgeschrittene Forschungen

Das EpiZentrum der Debatte liegt im Rheinland: Es war der Antrag der beiden Bonner Neuropathologen Oliver Brüstle und Otmar Wiestler an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, DFG, humane embryonale Stammzellen (ES-Zellen) einführen zu dürfen, der die Diskussion über das Für und Wider der Stammzellforschung hierzulande erst entzündete. Öl ins Feuer goss NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement, als er sich während eines Israelbesuchs Ende Mai bereits für einen Import embryonaler Stammzellen aussprach, als im Bundestag noch über die Grenzen der Gentechnik debattiert wurde. Die Cardion AG, eines der Pionierunternehmen in der Stammzellforschung, hat ihren Sitz in Düsseldorf-Erkrath. Das Start-up-Unternehmen Kourion Therapeutics GmbH, das sich mit der Gewinnung von Stammzellen aus dem Nabelschnurblut von Neugeborenen beschäftigt, wurde von dem Düsseldorfer Immunologen Peter Wernet gegründet. Und Axiogenesis, eine junge Firma, die mit adulten Stammzellen forscht, ist ein Kölner Gewächs.
Die beiden Bonner Wissenschaftler dürften ihre öffentlichen Auftritte im bundesdeutschen Blätterwald längst bereut haben: Brüstle, der sich nach Meinung von Brancheninsidern »zu sehr aus dem Fenster gehängt hat«, erhielt bereits Bombendrohungen. Wiestler beklagte sich jüngst im Spiegel, dass er und sein Kollege allein die Schläge einsteckten, während andere mit dem gleichen Wunsch sicher in der Deckung ständen. Auch die Biotech-Unternehmen sind vorsichtig geworden: Cardion hat seit wenigen Monaten eine externe Kommunikationsabteilung, die Presseanfragen abwickelt. Andere Firmen haben Polizeischutz für einige ihrer MitarbeiterInnen angefordert. Dennoch werde »die längst fällige Debatte heftig begrüßt«, so Cardion-Sprecher Wolf-Henning Kriebel: »Wir brauchen rechtliche Klarheit.«
Die Cardion AG, bislang unter anderem in der Forschung an humanen adulten sowie an embryonalen Stammzellen von Mäusen tätig, wäre jetzt soweit, auch an humanen ES-Zellen zu forschen. »Wir halten uns aber zurück, bis eine Entscheidung gefallen ist«, meint Kriebel. Und egal, wie die Entscheidung ausfalle: »Wir bleiben in Deutschland.«
Das Versprechen des Biotech-Unternehmens, das im vergangenen Jahr eine der größten Finanzierungsrunden in der deutschen Biotechnologie (42,4 Millionen Euro) abgeschlossen hat, relativiert sich bei näherem Hinsehen. Denn die Cardion AG, an der auch die Investmentgruppe Gold-Zack AG aus Mettmann, das Kölner Bankhaus Sal. Oppenheim und die Beteiligungsgesellschaft der Deutschen Wirtschaft mbH der Dresdner Bank Gruppe beteiligt sind, ist dabei ein Global Player zu werden. Vor wenigen Monaten hat das Unternehmen die Bostoner Firma Tolerance Pharmaceuticals Inc. übernommen. Tolerance ist Spezialist auf dem Gebiet der Immuntherapie – eine der drei Kernkompetenzen auf dem Gebiet der Stammzellforschung. Denn eines der Probleme bei der Transplantation von Stammzellen ist die mögliche immunologische Abstoßungsreaktion im Körper des Empfängers.
Eine weitere Kernkompetenz, die Cardion bereits erworben hat, ist die Filtertechnologie: »Damit können wir, vereinfacht gesagt, den Zellen den Befehl zum Handeln geben, aber auch Research betreiben: Das heißt, mittels dieser Technik kann ein Krankheit verursachendes Gen ausfindig gemacht werden«, erklärt Kriebel. Die dritte Kernkompetenz ist der Besitz von Zelllinien – hier laufen seit einiger Zeit Gespräche zwischen Cardion und dem Rambam Medical Center in Haifa, Israel, eine der weltweit bisher drei Institutionen, die die begehrten Zelllinien aus humanen embryonalen Stammzellen besitzen.

weltweit vernetzt

Eine großangelegte strategische Allianz also, an deren Ende, so hofft Cardion, auch der große Umsatz wartet – die Schätzungen liegen bei bis zu zehn Milliarden DM pro Jahr bei der Behandlung von Alzheimer oder Parkinson und bei rund 1,5 Milliarden DM bei der Behandlung Diabeteskranker.
Eine strategische Allianz, die gleichzeitig aber auch Fakten schafft und zeigt, wo das Problem in der derzeitigen gesellschaftlichen Diskussion steckt: Wenn die Forschung an humanen ES-Zellen in Deutschland nicht erlaubt ist, dann läuft sie eben in den USA, in England oder in Israel.
Das Beispiel zeigt: Die Diskussion auf breiter gesellschaftlicher Ebene erfolgt eigentlich zu spät. Worüber hier diskutiert wird, ist anderswo längst Realität geworden. So berichtete der Spiegel kürzlich über das WiCell Research Institute, eine US-Firma aus Wisconsin, die im letzten Jahr an mehrere deutsche Einrichtungen humane embryonale Stammzellen geliefert haben soll, darunter auch an einige Hochschulen. Und die FAZ meldete, eine Lieferung von humanen ES-Zellen von der australischen Firma ES Cell International an den einstigen Aachener und jetzigen Kieler Biochemie-Professor Stefan Rose-John stehe kurz bevor.
Kann vor diesem Hintergrund eine »ehrliche Debatte« geführt werden, wie sie Heribert Bohlen, Onkologe an der Kölner Universitätsklinik und Gründer des Start-up Axiogenesis zu Recht fordert? Bohlen kommt aus der Praxis: Er ist Krebsmediziner an der Universitätsklinik Köln, befasst sich dort schwerpunktmäßig mit dem Lymphdrüsenkrebs Morbus Hodgkin und tritt für die Stammzellforschung ein: »Ich habe gesehen, was man mit Stammzellen alles machen kann, z.B. bei Knochenmarktransplantationen.« Um Stammzellforschung betreiben zu können – »an der Uni ist das schwierig zu machen« – hat er im vergangenen Jahr Axiogenesis gegründet, derzeit beschäftigt das Unternehmen 15 MitarbeiterInnen. Geforscht wird allerdings an adulten Stammzellen, die nach Ansicht von Bohlen »das größere Potenzial« haben. »Eigentlich wäre es sinnvoll, eine vergleichende Forschung zu machen – also an adulten, an embryonalen und an Stammzellen aus Nabelschnurblut«, meint Bohlen. Doch das sei schlicht zu teuer.
An Stammzellen aus Nabelschnurblut forscht das Start-up Kourion Therapeutics GmbH. Gegründet wurde die Firma von Professor Peter Wernet, dem Leiter der größten europäischen Nabelschnurblutbank im Uni-Klinikum Düsseldorf. Kourion hat aus Nabelschnurblut eine Stammzelle mit hohem Entwicklungspotenzial identifiziert und zu großen Zellzahlen vermehren können. »Diese Zellen sind eine ideale Ausgangsbasis für die Entwicklung des gezielten Gewebeersatzes«, so Wernet.

wenig beachtete Alternativen

Kourion und Axiogenesis haben eins gemeinsam: Die Stammzellforschung, die sie betreiben, gilt hierzulande als »ethisch unbedenklich«. Doch der Ethikbegriff ist von Land zu Land unterschiedlich: Briten sehen auch die Forschung an humanen embryonalen Stammzellen als ethisch unbedenklich an. Dort wurde bereits 1990 ein Gesetz verabschiedet, das Forschung an Embryonen bis zum 14. Tag nach der Keimzellverschmelzung grundsätzlich zulässt, allerdings auf Zwecke der Reproduktionsmedizin beschränkt. Seit Januar dieses Jahres ist auch das therapeutische Klonen in Großbritannien erlaubt. Auch in den USA wird alles für die Stammzelltherapie vorbereitet: Die kalifornische Firma Geron hat sich bereits drei Verfahren mit embryonalen Stammzellen patentieren lassen. Durch den Kauf des Roslin Instituts in Edinburgh hält man auch Rechte am Zellkerntransfer der Methode Dolly, ist also für das therapeutische Klonen bestens gerüstet.
Vielleicht wird der »öffentliche Diskurs« bald einmal mehr von der Forschung überholt: wenn sich zum Beispiel herausstellt, dass die Forschung mit adulten Stammzellen erfolgversprechender ist als die mit ES-Zellen. Adulte Stammzellen wurden bisher in 20 Organen des Körpers entdeckt, sie können sich ebenfalls in verschiedene Zelltypen verwandeln. Allerdings lassen sie sich nur begrenzt vermehren. An dem Problem wird derzeit gearbeitet. Erste Ergebnisse könnte es, meint Cardion-Sprecher Kriebel, schon binnen Jahresfrist geben.



Glossar

Stammzellforschung: Die Stammzellforschung ist noch jung: Erst vor drei Jahren gelang es zwei Forschungsgruppen aus den USA und Israel erstmals Stammzellen aus Embryonen zu isolieren und im Labor künstlich zu vermehren. Als potenzielle Quelle kommen überzählige Embryonen, zum Beispiel aus künstlichen Befruchtungen, abgetriebene Föten oder geklonte Eizellen in Frage. Die eingefrorenen überzähligen Embryonen (»Eskimos«) werden aufgetaut und wachsen einige Tage im Labor. Im Blastozysten-Stadium (5. bis 7. Tag) werden dann
aus der inneren Zellmasse embryonale Stammzellen entnommen.

Embryonale Stammzellen: Embryonale Stammzellen sind stark vermehrungsfähige Zellen, die sich in mehr als 200 verschiedene Zelltypen verwandeln können, beispielsweise Gehirnzellen, Nervenzellen, Blut oder Insulin bildende Zellen. ES-Zellen aus dem Blastozysten-Stadium entwickeln sich nicht in einen vollständigen Organismus. Wissenschaftler gehen davon aus, dass mit Hilfe dieser »Ersatzzellen« Krankheiten wie Alzheimer, Multiple Sklerose, Blutkrankheiten oder Diabetes erfolgreich »repariert« werden können. Die Forschung an den sogenannten ES-Zellen gilt als ethisch bedenklich, weil sie Embryonen verbraucht.

Adulte Stammzellen: Stammzellforschung kann auch mit adulten (erwachsenen) Stammzellen betrieben werden, was als ethisch unbedenklich gilt. Adulte Stammzellen findet man bspw. im Knochenmark. Sie besitzen nach gegenwärtigem Stand der Forschung eine geringere Vermehrungskapazität als embryonale Stammzellen, auch besteht für den Spender ein Risiko während der Entnahme. Da das Erbgut der Zellen mit dem des Empfängers identisch ist, kommt es nicht zu Abstoßungsreaktionen.

Stammzellen aus Nabelschnurblut: Eine weitere Variante zur Gewinnung von Stammzellen ist die aus dem Nabelschnurblut von Neugeborenen. Es besteht kein Risiko für den Spender. Die Methode gilt als ethisch unbedenklich. Nabelschnurblut kommt bei der Geburt allerdings nur in geringer Menge vor.

Therapeutisches Klonen: Beim therapeutischen Klonen wird eine Eizelle entkernt und mit dem Zellkern einer Körperzelle versetzt. Ziel ist die Erzeugung eines embryonalen Klons, der die für den jeweiligen Patienten passenden Stammzellen liefert, bspw. um zerstörtes Körpergewebe zu ersetzen.

Reproduktives Klonen: Das reproduktive Klonen zielt darauf genetisch identische Kopien eines ausgewachsenen Säugetiers zu erzeugen. Die ersten lebensfähigen Klone waren Frösche, der erste lebensfähige Säuger das Schaf Dolly.