Wer alles filmt, sieht nichts

Der durchmedialisierte Alltag spiegelt sich in den zeitgenössischen Künsten. Wie aber verträgt dies das Theater eine Gattung, die ursprünglich ohne Medieneinsatz auskam und von der Kunst des Raums und der SchauspielerInnen lebte?

Neulich, im Theater. Es wird dunkel im Saal, ein kurzes Flackern und es erscheint Tom Selleck. Im Smoking. Umgeben von einer Schar kreischender Teenys. Willkommen in Hollywood. Kino gucken im Theater, auch schön. Doch kurz nur währt das filmische Vorspiel übrigens ein Ausschnitt aus »In & Out« , ein flüchtiges Verschnaufen lediglich vor dem theatralen Ernst des Abends, der da hieß: Torsten Fischer inszeniert David Mamets »Gunst der Stunde« auf der großen Bühne im Kölner Schauspielhaus.
Schon in diesen ersten Minuten mit Mr. Selleck wird deutlich, worum es gehen wird: Kasse gegen Kunst im Gewande einer bösen Satire über die amerikanische Traumfabrik und ihre Mechanismen. Doch gleichzeitig ist diese Ouvertüre symptomatisch für den gegenwärtigen Zustand des Theaters. In den letzten Jahren hat nämlich eine Filmisierung des Theaters stattgefunden, eine Unterwanderung von theatraler Ästhetik und Dramaturgie durch die Medien der Audiovision. Was geschieht dem Theater, wenn es versucht, das bessere Kino zu sein? Doch gemach, ein apokalyptisches Klagelied über den Untergang der abendländischen Theaterkultur ist nicht von Nöten. Nur ein Nachdenken über das schwierige Verhältnis von Theater und Film, denn neu ist der Flirt der Bühne mit dem Kino keineswegs. Ja, vielleicht ist die Filmisierung des Theaters nur eine logische Konsequenz aus der mediengeschichtlichen Entwicklung dieser beiden »feindlichen Brüder«, um die im medienästhetischen Diskurs beliebte Metapher zu verwenden.
Intermediale Inszenierungen sind Teil einer Theatergeschichte des Films: Tempo und Lichtwirkung des Films übernahmen Regisseure wie Leopold Jessner bereits zu Zeiten der Weimarer Republik für ihre Theaterarbeiten. Erwin Piscator integrierte 1924 nach Meyerhold in der Sowjetunion zum ersten Mal Lichtbildprojektionen in eine deutsche Bühneninszenierung. Damals: ein Ereignis. Die gegenwärtige ästhetische Angleichung von Theater und audiovisuellen Medien ist jedoch nur noch bedingt avantgardistisch, sie wirkt eher wie der stets ein wenig hilflos anmutende Versuch, sich einer medial geprägten Wirklichkeit zu stellen und das beständige Beobachten der Welt durch Kameras auch auf der Bühne zu beobachten.
Interessanterweise hat sich der Austausch der kultursoziologischen Argumente seit der ersten »Kino-Debatte«, die 1912/13 ihren Höhepunkt erlebte, nicht wesentlich geändert. In dem Maße, wie es dem Kino gelang, sich als Medium fiktionaler Darstellung durchzusetzen, grassierte die Angst, das kulturtragende mittlere Bürgertum als Lese- und Theaterpublikum zu verlieren. »Das Kino fungiert als eine Art Katalysator im Streit um die Kommerzialisierung der Kunst«, schreibt der Literatur- und Filmwissenschaftler Anton Kaes über die 1910er und 20er Jahre. Und tut es das nicht immer noch, irgendwie? Kein Theater kann die Gagen von Film oder Fernsehen zahlen, und dass dem Theater das Publikum wegbleibt, ist in letzten Monaten eine viel diskutierte Tatsache. Nicht dass daran jetzt das Kino schuld wäre, aber es ist bemerkenswert, wie viele TheatermacherInnen auf die »Krise« reagieren, indem sie sich inhaltlich und ästhetisch dem Kino anpassen.
Die Stoffe werden leichter, die Inszenierungen bunter. Regisseure reagieren in der Wahl ihrer ästhetischen Mittel auf Sehgewohnheiten, die durch Film, Fernsehen und Video geprägt worden sind. Montage-Techniken werden imitiert, Bilderfolgen wie beim Zappen inszeniert und manchmal werden auch durch Licht oder durch die Optik des Bühnenbildes Einstellungsgrößen nachgestellt. Und schließlich die Thematisierung der Apparatur: Wenn sich eine Produktion vorgenommen hat, hip zu sein, zählen Kamera, Leinwand und/oder Monitor zur Standardausstattung.
Die (post-)modernen Theater-Fernseh-Video-Film-
Abende verdoppeln die alte Theaterfrage nach Sein und Schein, nach Person und Rolle, Kunst und Leben. So hantieren die Figuren in Tim Staffels Goethe-Variation »Werther in New York« in der Inszenierung des Trash Theaters Köln mit einer Videokamera und werden zu Abbildern ihrer selbst. Strandidylle flimmert über eine Leinwand, doch das Reden über Liebe und Leid bleibt bloße Worthülse. Multimediale Tristesse. Und die gläsernen Särge auf der Bühne künden vom Tod als nicht gelebtem Leben. Igor Bauersimas »norway.today« am Düsseldorfer Schauspielhaus geht noch einen Schritt weiter. Zwei junge Menschen verabreden sich über das Internet, um gemeinsam zu sterben. Ein letztes Rendezvous und ein Abschiedsgruß per Digitalkamera optisch wirksam übertragen auf die große Leinwand im Hintergrund. Bauersimas Inszenierung hat Charme, sie zeigt wie selbstverständlich den Umgang einer mediensozialisierten Generation mit eben diesen Medien. Die Geschichte von Julie und August am norwegischen Abgrund erzählt von der großen Sehnsucht nach Authentizität, aber sie vermittelt auch den gelangweilten Weltekel einer Generation, die alles schon einmal gesehen hat und sich darum an sich selbst nicht satt sehen kann. Narziss im Spiegelbild der Medien.
Schöne neue Theater-Film-Welt? Als Alltagsmedien gehören Film und Fernsehen zweifellos auch zu den Mitteln ästhetischer Kommunikation im Theater, wenn das Theater auf der Höhe seiner Zeit sein will. Wo aber bleibt die ganz eigene Poesie der Bühne? Jener Kunst des Als-ob, die nichts weiter benötigt als einen, der spielt und eine, die zusieht. Wohin ist das Vertrauen auf die Kraft der Fantasie und die Vieldeutigkeit von Symbolen? Die Imagination verschwindet hinter den Apparaten, das Geheimnis hinter dem Sichtbaren und der Medieneinsatz bleibt Effekthascherei oder didaktische Geste: Selbst wer wie Volker Hesse mit Albert Ostermaiers »The Making of« am Kölner Schauspiel eine moralische Medienkritik intendiert und eine komplexe Erkundung intermedialer Grenzbereiche unternimmt, verläuft sich schnell im Irrgarten jener Effekte.
Doch auch die neuerdings wieder zu beobachtende Lust an naturalistischer Textillustration misstraut dem leeren Raum und ist eine Konzession an die Gewöhnung einer »realistischen« Abbildung von Welt durch die audiovisuellen Medien.
Wo die künstlerische, genuin theatrale Vision fehlt, regiert schlichte Mittelmäßigkeit. Angesichts der wenig trostreichen Lage (nicht zuletzt in hiesigen Gefilden) gilt das heimliche Sehnen derer, die aus professionellen Gründen häufig ins Theater gehen, dem Kino. Sonderbarerweise verursacht nämlich ein schlechter Film weit weniger Unbehagen als eine schlechte Theateraufführung. Bisweilen kann man sogar ein gewisses Vergnügen daran entwickeln, sich schlechte Kinofilme anzusehen. Es mag an der Dunkelheit im Kinosaal liegen, an dem Für-sich-sein in Gesellschaft. Vor der Leinwand ist das Publikum entlassen aus der Dialektik von Spielen und Zuschauen, in der sich Theater entfaltet. Auch dies ist bisweilen entspannender, als sich der elektrisierenden Wirkung der Interaktion zwischen Bühne und Zuschauerraum auszusetzen.
Sebastians Hartmanns »Einsame Menschen« an den Kölner Bühnen ist ein Musterbeispiel für die komplizierte Chemie zwischen dem Diesseits und dem Jenseits der Rampe. Teils herrschte im Publikum gebannte Aufmerksamkeit, teils verließen bei der Premiere erboste ZuschauerInnen reihenweise den Saal, was die Schauspieler zu immer grimmigeren Kommentaren hinriss. Bei einem zweiten Besuch der Kölner Ausnahme-Inszenierung hielten sich die Publikumsreaktionen in Grenzen und die Aufführung erlitt herben Verlust an innerer Spannung und Dynamik. Im Kino hingegen haben spontane Gefühlsäußerungen keinerlei Einfluss auf das Geschehen und das geräuschvolle Aufreißen der Chipstüte stört allenfalls den Nachbarn. Vielleicht, wenn es im Theater Popcorn gäbe, vielleicht wären dann die Häuser voll und niemand redete mehr über die Krise des Theaters.
Igor Bauersimas »norway.today« wird in der kommenden Spielzeit im Düsseldorfer Schauspielhaus wieder zu sehen sein.