Kein eindeutiges Bild

Bei einer Zwangsräumung in Ostheim wurde ein Straßenmusiker von der Polizei erschossen

Viele sind nicht gekommen zur Trauerkundgebung für Jozef B. am ersten Samstag im August. Das hat wohl seine Gründe. Es ist nach wie vor nicht richtig klar, was drei Tage zuvor in dem Hochhaus an der Gernsheimer Straße in Ostheim genau passiert ist. Fest steht, die Räumung seiner Wohnung überlebte Jozef B. nicht. Schüsse von zwei Polizisten trafen ihn, er verstarb noch im Haus. Es heißt, B. sei mit einem Messer bewaffnet gewesen und auf die Polizisten losgestürmt. Pfefferspray habe keine Wirkung gezeigt. Die Bonner Polizei ermittelt nun gegen die Schützen wegen Körperverletzung mit Todesfolge.

In Boulevardmedien wie dem Express oder der Bild wird schnell ein eindeutiges Bild von Jozef B. gezeichnet. Er sei ständig betrunken gewesen, habe Bierflaschen geworfen, Nachbarn angepöbelt und bedroht. Beim Wechseln des Wassers in seinem Aquarium habe er mehrmals größere Schäden verursacht. Geräumt wurde Jozef B., weil er als Mieter untragbar geworden sei. Die Geschichte vom pöbelnden Russen mit Alkoholproblem erzählen auch zwei Nachbarinnen den Organisator*­in­nen der Trauerkundgebung. Sie betonen, dass es natürlich schlimm sei, dass Jozef B. gestorben ist. Aber sie sagen auch, dass man es sich nicht »einfach« machen dürfe und die Schuld nur bei Polizei und Gerichtsvollzieherin abladen könne.

Kalle Gerigk, stadtpolitischer Aktivist und 2014 selbst von einer Zwangsräumung betroffen, zeichnet ein anderes Bild von Jozef B. In der Corona-Pandemie sei dieser zum Alkoholiker geworden. Er habe sein Leben als Straßenmusiker nicht mehr wie gewohnt führen können. Ein Problem habe zum anderen geführt. Gerigk spricht über einen Beitrag, den der WDR vor mehreren Jahren über Jozef B. gedreht hat. Darin erzählt der Musiker, dass er Mitte der 90er Jahre aus Russland nach Deutschland kam, weil er nicht zum Militärdienst im Tschetschenien­-Krieg eingezogen werden wollte. An der Hochschule für Musik & Tanz in Köln hat er dann studiert. Später machte er mit seinem Xylophon in Köln Straßenmusik. Menschen, die Jozef B. als Straßenmusiker kannten, berichten von dem außergewöhnlich hohen Niveau, mit dem er gespielt hat, aber auch, dass er oft betrunken war, schon am Morgen Schnaps trank und gerne mal sein Publikum beleidigte. Zwei Wochen nach der Räumung wurde bekannt, dass Jozef B. öffentlich über Suizid nachgedacht hat und psychologisch betreut wurde. Der Betreuer verhinderte dadurch eine erste Zwangsräumung, und Jozef B. wurde in die Psychiatrie eingewiesen. Nach seiner Entlassung galt er jedoch als nicht mehr gefährdet, sodass das Amtsgericht einen zweiten Versuch zur Zwangsräumung als legitim ansah.


Nach der Räumung wurde bekannt, dass Jozef B. öffentlich über Suizid nachgedacht hat und psychologisch betreut wurde

Den stadtpolitischen Aktivist*innen geht es bei der Kundgebung jedoch um mehr als den Fall von Jozef B. Sie befürchten einen kalten Herbst und Winter. Die Energiepreise steigen. Das ist für arme Haushalte besonders gefährlich. In Stadtteilen wie Ostheim ist fast jeder Dritte auf Hartz IV angewiesen. Das bedeutet zwar, dass die Heizkosten bezahlt werden, was zumindest den Anstieg der Preise für Gas und Fernwärme ab Oktober abfedern dürfte. Für den Strom gilt das aber nicht, er ist nicht in den »Kosten der Unterkunft« enthalten. Die Rheinenergie hat den Strompreis im August um 2,36 Cent pro Kilowattstunde erhöht. Das ergibt im Monat zwar nur Mehrkosten von wenigen Euro. Doch für diejenigen, bei denen die steigenden Lebensmittelpreise schon voll durchschlagen, können es eben diese wenigen Euro sein, die fehlen.

Die Redner bei der Kundgebung in der Gernsheimer Straße haben für diese Probleme keine einheitliche Lösung. Die einen appellieren an Stadt, Land und Bund, sie müssten doch erkennen, was da auf arme Menschen zukomme. Andere, wie ein junger Mann, der sich Fritz nennt, schlagen andere Töne an: Man müsse sich zusammenschließen. Ein ganzer Wohnblock, der die Miete verweigere oder mindere, sei nur schwer kleinzukriegen. Und schließlich sei »jede Räumung, bei der zwei- oder dreihundert angepisste Leute auftauchen« für »Ämter und Cops ein Horrorjob!« Ob die Wünsche von Fritz in Erfüllung gehen? ­Bisher deutet wenig darauf hin.