Blickt zurück auf lange Spaziergänge: Severin Kantereit; Foto: Martin Lamberty

»Wir drei waren ab einem gewissen Zeitpunkt furchtbar konsequent«

Severin Kantereit blickt auf seine musikalischen Anfänge zurück

»Es ist Abend und wir sitzen bei mir«, so heißt das jüngst erschiene­ne, vierte Album der Kölner Pop-Superstars Annenmaykantereit. Der Titel ist Programm: Die Ideale der Band sind immer noch Nahbar­keit, Freundschaft, gemeinsames Abhängen, Vertrautheit. Tatsächlich sind die drei Musiker alte Schulfreunde. Diese Ideale haben ihnen auch Kritik eingebracht, ihre Musik gilt vielen als zu gefühlig. Aber es gibt hierzulande keine Band, die so unaufgeregt zu so großer Bekanntheit aufgestiegen ist. Das fasziniert. Grund genug für uns, Severin Kantereit, den Schlagzeuger der Band, nicht nach ihren aktuellen Songs zu fragen. Wir wollten ganz einfach wissen: Wie kam das alles, und was heißt es, gemeinsam Musik zu machen?

Schau mal, ich habe vor zwei Tagen ein Foto geschossen (zu sehen ist der Schulhof des Schiller-Gymnasi­ums in Sülz). Was löst dieses Foto bei dir aus?

Sehr viel. Da ist zum Beispiel die Aula der Schule. Ei­gent­lich sind wir als Band genau da musikalisch zusammen gekommen. Chrisy (gemeint ist Christopher Annen, Gitarrist der Band), der eine Stufe über der von Henning und mir war, hatte an der Schule die Veranstaltungsreihe »Schiller musiziert« ins Leben gerufen. Davor war Musik kein wirklicher Schwer­punkt am Schiller. Alle Schüler, die musikalisch etwas aufführen woll­ten, konnten sich anmelden. Das haben Henning und ich dann auch getan. Im Prinzip war das unser erstes Konzert. Chrisy sah unseren Auftritt und ein paar Wochen später ist aus dem Duo ein Trio geworden. Deshalb löst das Foto ganz schön viel aus. Es ist der Ursprung von allem.

Was hat vor diesem Auftritt bei euch musikalisch so stattgefunden?

In der Schule sind einfach drei Jungs, die auf verschiedenen Wegen wandelten, aufeinandergetroffen. Ich hatte als Schüler zusammen mit zwei Mitschülern schon früh Bock auf Musik, und zu Weihnachten hat sich jeder von uns ein Instrument gewünscht. Bei mir war das die E-Gitarre. Beigebracht habe ich sie mir autodidaktisch. Die anderen beiden haben das mit Bass und Schlagzeug genauso getan. Und plötzlich waren wir die Schulband vom Schiller. Gespielt haben wir auch schon in kleinen Clubs, im MTC oder Blue Shell. Irgendwann stieß Henning dann zu uns. Mit seinen Klavier-Erfahrungen. Mit Musik hatte er bis dahin eher we­­niger zu tun. Kabarett, generell die Schauspielerei war mehr sein Ding damals. Wir beide haben dann total oft miteinander gejamt. Ich habe mich immer öfter instinktiv hinters Schlagzeug gesetzt. Schlag­zeug zu spielen fiel mir recht leicht. Christopher kam aus der klassischen Gitarrenecke. Gerade sitzend. Zupfend. Wir drei waren also aus der Ferne betrachtet sehr weit voneinander entfernt. Aber als wir uns zum ersten Mal trafen, wussten wir: Dieses Setting fühlt sich gut an. Und dann sind wir jahrelang auf den Straßen Kölns als Straßenmusiker unterwegs gewesen. Einen Proberaum hatten wir nicht. Die Straße war unser Proberaum. Als viele unserer Mitschüler nach dem Abi auf Weltreise gingen, blieben wir hier. Wir wollten das, was wir hatten, einfach nicht verlieren.

Die Geschichte passt irgendwie auch zu deinem Namen. Severin, der Ernste, der Strenge. Der Konsequente?

Ich denke schon, dass ich ein konsequenter Mensch bin. Meine Eltern haben mir meinen Namen in erster Linie jedoch nicht gegeben, weil sie einen konsequen­ten Jungen auf die Welt bringen wollten. Sie waren mit mir im Bauch auf einem BAP-Konzert. Wolfgang Niedecken widmete auf dem Konzert einen Song seinem Sohn Severin. Den Namen fanden sie richtig gut. Deshalb heiße ich so. Irgendwann habe ich Wolfgang diese Story mal erzählt. Das war ganz schön verrückt. Aber um zur Konsequenz zurückzukommen. Wir drei waren ab einem gewissen Zeitpunkt furchtbar konsequent. Manchmal schlossen wir uns stundenlang im Studio ein, um zu üben. Jeder von uns hatte nämlich das Gefühl, nicht so gut am eigenen Instrument zu sein wie der jeweils andere an seinem. So haben wir uns und unsere Beziehung zueinander immer wieder gepusht.


Wir kümmern uns ­tagtäglich um unsere Freundschaft. Wir behüten sie.
Severin Kantereit

Wie funktioniert das mit der Freundschaft im Musikbusiness eigentlich?

Freundschaft ist für uns die Basis von allem. Zusammen sind wir kreativ, wir haben ein gemeinsames Business und gleich­zeitig sind wir Freunde. Ich denke, das alles funktioniert bei uns nur, weil wir miteinander befreundet sind und uns vertrauen. Wenn das nicht so wäre, könnten wir das alles auch sofort sein lassen. Aber ein Selbstläufer ist das natürlich nicht. Eine gesunde Diskussions- und Streitkultur untereinander ist schon enorm wichtig. Das Schiller hat dafür definitiv den Grundstein gelegt. Und: Wir kümmern uns tag­täglich um unsere Freundschaft. Wir behüten sie. Aber wie gesagt: Einfach ist das nicht immer.

Freundschaft zu verstehen als das Antriebsmoment für AnnenMayKantereit?

Absolut. Und das Be­dürf­nis einer funktionierenden Freund­schaft ist in diesem Zusam­menhang eng gekoppelt an den Wunsch, sich individuell an seinem Instrument weiterzuentwickeln. Früher habe ich mir das Schlagzeugspiel immer reingeknüppelt, weil ich dachte: Ich bin nicht gut genug! Schließlich habe ich erst mit 18 ernsthaft begonnen, Schlag­zeug zu spielen. Ich dachte damals, dass es einiges nachzuholen gäbe gegenüber den studierten Musikern. Das ging auch Henning und Christopher so. Unser Glück waren da die vielen Konzerte. Auf denen konnten wir unsere Arbeit direkt ausprobieren. Konzerte sind deshalb ein sehr wichtiger Bestandteil in dieser »Antriebs-Familie«. Die Gefahr des individuellen und gemeinsamen Stillstands lauert immer und überall. Man muss lernen, ihr aus dem Weg zu gehen. Unser musikalisches Vokabular jedenfalls ist heute ziemlich facettenreich. Und es macht Spaß, sich auf dieser musikalischen Spielwiese austoben zu können und zu dürfen.

Konntest du denn über die letzten Jahre den Gedanken »Ich bin nicht gut genug« ablegen?

Nein. Diesen Gedanken habe ich temporär noch immer. Aber wenn ich ehrlich bin: Treffe ich mich mit anderen Musikern, dann ist dieser Gedanke, die­ses Gefühl bei fast allen präsent. Ich treffe selten Musiker, die über sich selbst sagen, sie seien die Geilsten oder die Besten. Ich glaube, am Ende ist es vielleicht genau dieser Selbstzweifel, der dir morgens den Energieschub gibt, damit du aufstehst und ins Studio fährst, um deine Kreativität nicht einschlafen zu lassen. Manchmal denke ich sogar, dass man sich diese Selbstzweifel-Bereiche bewusst oder unbewusst sucht, um zumindest einen Teil der kreativen Span­nung aufrechterhalten zu können.

Inwiefern wird ein Teil deiner ­Krea­tivität von anderen Musikern inspiriert?

Erst vor kurzem habe ich ein sehr beeindruckendes Konzert erlebt. Die Person stand mit ihrer Gitarre einfach nur auf der Bühne und sie hat mich anderthalb Stunden sehr berührt. Genau das ist es: Wenn da etwas ist, das mich be­wegt und ich es nicht richtig greifen und erklären kann, wenn ich nicht so rich­tig weiß, was da mit mir ge­schieht während des Konzerts, dann ist es richtig gut für mich. Dann ist da Magie. Alice Phoebe Lou zum Beispiel inspiriert und berührt mich sehr. Eine ganz tolle Künstlerin. Total reduziert. Unfassbar gut.

Unfassbar gut könnte auch ein Tag in Köln so ganz ohne Probe, ohne Konzert, ohne Interview werden, oder?

Was für eine Vorstellung. Auf jeden Fall. Ich bin gerne alleine, gehe auch sehr gerne in Cafés. Oft gar nicht mit einem großen Ziel vor Augen. Ich mag es dann, Menschen um mich zu haben, ohne wirklich direkt mit ihnen in Kontakt zu treten. Dieses Drumherum, das mag ich. Irgendwann aber würde ich dann losgehen. Seit drei Jahren lebe ich mittlerweile in Berlin, dennoch bin ich sehr oft in Köln. Irgendwann habe ich begonnen, in Köln Strecken zu gehen, die ich noch vor ein paar Jahren nicht im Leben zu Fuß gegangen wäre. Zum Beispiel von Ehrenfeld rüber in die Südstadt. Wenn man in Berlin wohnt, nimmt man Entfernungen in Köln plötzlich ganz anders wahr. Und auf so einem Spaziergang begegnen mir vielleicht sogar Menschen, die ich kenne. Ganz sicher aber komme ich an Orten vorbei, zu denen ich einen tiefen emotionalen Bezug habe. Das Schiller zum Beispiel.