Kurze Beine — Lange Wege
Kurze Beine, kurze Wege: Dass jüngere Kinder kurze Wege zur Grundschule haben, ist in Köln nicht mehr die Regel. Das Drama um fehlende Schulplätze, das seit zehn Jahren die weiterführenden Schulen betrifft, hat nun auch die jüngsten Schülerinnen und Schüler erreicht. An fast der Hälfte der Kölner Grundschulen gibt es in diesem Jahr mehr Anmeldungen als Plätze. Nach jetzigem Stand werden 553 Kölner Kinder keinen Platz an ihrer gewünschten Grundschule bekommen.
Als Ursache für den Mangel machen Stadt und Politik die stark steigende Zahl an Kindern aus, die die erste Klasse wiederholen müssen. In diesem Jahr sind es voraussichtlich 877 Kinder — das sind 8,5 Prozent aller Erstklässler. Die Zahl der »Verbleiber« wächst das dritte Jahr in Folge: Bereits zum Schuljahr 2023/2024 gab es einen Anstieg von 450 auf 560, nun der Sprung auf 877 — das sind fast doppelt so viele wie vor zwei Jahren. Erst seit 2020 ist es laut Schulgesetz möglich, das erste Schuljahr zu wiederholen. Zuvor war dies nur in Einzelfällen möglich, wenn nötig haben Kinder am Ende der »Schuleingangsphase« die zweite Klasse wiederholt. Das Schuldezernat spricht von einer »nicht hinnehmbaren Entwicklung«, kündigt »umfassende Ursachenforschung« und ein Konzept an, um der Entwicklung entgegenzuwirken. Bis zum Schuljahr 2025/2026 soll der Anteil der Sitzenbleiber deutlich reduziert werden. Um die akute Mangelsituation zu verbessern, will die Verwaltung Mehrklassen einrichten und Container aufstellen, nach jetzigem Stand werden 19 zusätzliche Klassen gebraucht.
Auffallend ist, wie ungleich der Mangel an Grundschulplätzen über die Stadt verteilt ist. Während in der Innenstadt, in Lindenthal oder Nippes sogar noch Schulplätze frei sind und an vielen Schulen keine oder nur wenige Kinder die Klasse wiederholen müssen, fehlen die Plätze vor allem in Porz, Chorweiler oder Mülheim. An 30 Schulen müssen mehr als zehn Kinder die erste Klasse wiederholen, sie liegen fast alle in sozial schwächeren Stadtteilen. An einer vierzügigen Schule im Stadtbezirk Kalk sind es sogar 37 Kinder. »Dass die Segregation in der Bildung so massiv voranschreitet, ist alarmierend«, so Heiner Kockerbeck (Linke). Und Inga Feuser, schulpolitische Sprecherin der Klimafreunde, sagt: »Es dürfen nicht nur Kinder in gut situierten Stadtteilen einen wohnortnahen Schulplatz bekommen!« Gerade die Kinder, die nicht täglich mit dem Auto oder Lastenrad gebracht werden könnten, benötigten eine wohnortnahe Grundschule. »Es ist auch die Aufgabe der Kommune, für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen«, so Feuser.
Doch warum müssen plötzlich so viele Kinder schon die erste Klasse wiederholen? Von einem »komplexen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang«, dem »keine singulären oder eindeutigen Ursachen« zugrunde lägen, spricht eine Stadtsprecherin. Daher könne es auch keine einfachen Lösungen geben. »Zumeist verfügen diese Kinder nicht über die notwendigen sprachlichen, motorischen, sozial-emotionalen und kognitiven Voraussetzungen, um sich im Lebensraum der Schule mit seinen unterschiedlichen, neuen Anforderungen erfolgreich einzufinden«, so die Sprecherin. Ihnen fehlten »Vorläuferkompetenzen«, wie eine Schere zu halten, Konzentration oder die Kenntnis von Gesprächsregeln.
Es dürfen nicht nur Kinder in gut situierten Stadtteilen einen wohnortnahen Schulplatz bekommen! InGa Feuser (klimafreunde)
Gudrun Schlichte leitet die Grundschule Riphahnstraße in Chorweiler, eine Schule mit vielen »Verbleibern«. Schlichte richtet den Blick auf die Vorschulzeit: Es sei ein Fehler gewesen, die Vorschulklassen abzuschaffen. Zudem verbrächten die Kinder insgesamt zu wenig Zeit im Kindergarten: »Wir haben hier im Viertel zu wenig Kitaplätze.« Hinzu kommt, dass sowohl Kitas als auch Grundschulen das Personal fehlt. »Förderung kann mit einer dünnen Personaldecke kaum stattfinden«, so Schlichte. »Es wiederholen in der Regel Kinder, die bisher keinen Kindergarten besucht haben und kein oder nur wenig Deutsch sprechen«, berichtet auch Silke Schröder-Wohlert, Leiterin der Grundschule Gotenring in Deutz. Sie hält es für falsch, geflüchtete Kinder direkt in die erste Klasse einzuschulen, statt sie in Vorbereitungsklassen sprachlich darauf vorzubereiten. Die generelle Möglichkeit, bereits das erste Schuljahr zu wiederholen, begrüßen die Schulleiterinnen jedoch. »Es ist zwingend notwendig, damit sie neu starten können. Sie wiederholen ja auch nicht denselben Stoff«, so Schlichte.
Heiner Kockerbeck von der Linken fordert seit langem, dass die Stadtverwaltung die OGS- und Kitaplätze nicht nur in den Vierteln ausbaut, in denen sie nachgefragt werden: »Die Stadt muss mehr Betreuungsplätze in sozial benachteiligten Vierteln schaffen und intensiver als bisher Elternarbeit betreiben, damit mehr Kinder angemeldet werden.« Aber sogar Familien, die OGS-Plätze nachfragten, erhielten kürzlich eine Absage, berichtet Kockerbeck von einer Beschwerde aus Neubrück. »Mich erreichen plausible Klagen, dass es dort nicht genügend Plätze gibt. Das darf nicht sein.« Die SPD auf Landesebene wiederum will mit einem »Chancenjahr« verpflichtend alle Kinder auf die Schule vorbereiten: »Kinder mit Problemen könnten so noch mal intensiver sprachlich, kognitiv und emotional gefördert werden«, sagt Oliver Seeck, schulpolitischer Sprecher der Kölner SPD.
»Es ist schockierend, wie viele Kinder die erste Klasse wiederholen müssen. Das hat uns eiskalt erwischt«, sagt Bärbel Hölzing, schulpolitische Sprecherin der Grünen. Dabei hat sich der Mangel lange angekündigt. Laut Schulentwicklungsplan braucht die Stadt 30 neue Grundschulen bis 2030, bislang haben erst acht den Betrieb aufgenommen. »Der neue Erlass, dass die erste Klasse wiederholt werden darf, fällt jetzt krachend den Schulträgern auf die Füße, die beim Schulbau säumig waren wie die Stadt Köln«, sagt Oliver Seeck. »Hätten wir schon vor Jahren mehr Schulen gebaut, hätten wir heute deutlich kleinere Klassen und könnten die Kinder individuell fördern. In Klassen, wie wir sie aktuell haben, werden Kinder mit Problemen abgehängt.«