Circa eine neue Welt
Vielleicht ist »ca. 1972« das ungewöhnlichste Buch, das jemals den Preis der Leipziger Buchmesse für Sachbücher gewonnen hat. Denn ein Sachbuch im eigentlichen Sinne — ein journalistisch recherchiertes Buch, das im Vorwort eine These formuliert und diese auf 250 bis 300 Seiten durchexerziert — ist es überhaupt nicht. Vielmehr präsentiert es seinen Gegenstand durch nichts mehr verbunden als die Zugehörigkeit zu einem »Chronotopos«, einer Konstellation aus Raum und Zeit: dem Jahr 1972 und ein bisschen Zeit davor und danach.
»ca. 1972« beeindruckt vor allem durch die Weite des Blicks, mit der Holert durch diesen Zeitraum schweift. Die beginnende Ökologiebewegung und ihre Spuren in der Popmusik finden dort ebenso ihren Platz wie feministische Filmtheorie, die unterschiedlichen Organisationen von Indigenen und die vielen Spielarten, die der Protest gegen den Krieg der USA in Vietnam annahm. Dabei hat Holert sich für eine Herangehensweise entschieden, die die großen Unterschiede an kleinen Episoden und Anekdoten zeigt. Der Streit um die Kostümierung der Marvel-Figur Wonder Woman etwa erhellt die Differenzen zwischen Schwarzer Queerness und dem dominierenden, weißen Mainstream-Feminismus.
Beim Lesen stellt sich dann Verblüffung ein im Angesicht der Gleichzeitigkeit dieser Bewegungen: Wie groß muss der Enthusiamus gewesen, um mit Post und Telefon dieses Niveau an Vernetzung hinzubekommen? Und welche historischen Faktorenwaren es genau, die diese Gefühlsstruktur des Unzufriedenseins befördert haben?
Eine definitive Antwort darauf vermeidet »ca. 1972« — und das ist eine Stärke des Buchs, keine Schwäche. »ca. 1972« schildert die Aufbrüche, nicht das Ankommen. So hält es sich heraus aus den — oft auch resignativen — Debatten, inwieweit die emanzipatorischen Bestrebungen der 70er Jahre nicht schon der Beginn der Kultur war, die die neoliberale Ära der Techfirmen, ihre Umgangsformen und Managementstrategien bis heute prägt. Und zeigt zugleich etwas viel Wirkmächtigeres: den Schnappschuss einer Raumzeit, in der eine andere Welt nicht nur möglich, sondern kurz bevorzustehen schien.
Tom Holert: »ca. 1972: Gewalt — Umwelt — Identität — Methode«, Spector Books, 544 Seiten, 36 Euro
stadtrevue präsentiert
Mo 29.4., King Georg, 21 Uhr