Eine surreale Scheidung
Im März hat Nora Schramm ihren Debütroman veröffentlicht, kurz nach Abschluss ihres Schreibstudiums an der Uni Köln. Seitdem hat sie drei Monate in Berlin verbracht, im Rahmen eines Aufenthaltsstipendiums. Dort hat sie für ihren nächsten Text recherchiert, zu Männern und Tieren. Jetzt ist sie zurück in Köln, was auch heißt: zurück bei ihrem Hund Wolle — endlich. Während des Gesprächs sitzt Wolle neben uns, während wir über Sprache, Text und Kleinfamilien sprechen.
An der Uni Köln habe sie gelernt, »über Texte zu reden«, sagt Schramm. » Ich bin dort mit Leuten in Kontakt gekommen, mit denen ich mein Schreiben teilen konnte und hab gemerkt: Text ist weder geheim noch unantastbar; ich kann ihn offenlegen, drüber sprechen und weiterbearbeiten.«
In »Hohle Räume« seziert sie eine bürgerliche Familie anhand eines scheinbar banalen Plots: Ein westdeutsches Ehepaar lässt sich scheiden, die erwachsene Tochter kommt zu Besuch und soll die Eltern bei der Aufteilung des Haushalts unterstützen. »Mich interessiert das Normale mehr als das Besondere«, sagt Nora Schramm. Durch die detailreiche und unerbittliche Beobachtung aus der Ich-Perspektive von Tochter Helene verwandelt sich dieses Normale dennoch schnell in etwas Besonderes. Helene ist eine erfolgreiche Künstlerin, sie beobachtet mit Hyperfokus, ihr Realismus wird surreal, aus Alltäglichem werden Ereignisse: »Sie hat sich Rotwein in ein Glas gegossen, das sie noch kleiner wirken lässt, so enorm groß und rund ist es, man meint, sie könnte es kaum halten mit ihren Fingerchen, sie könnte es glatt als Swimmingpool benutzen, die Mutter, ein wenig zusammenschrumpfen noch und dann als Fee einen Köpper in den Rotwein unternehmen und sich keck über den Glasrand lehnen, die Arme vor sich verschränkt, die Haare nass vom Wein, die Beine langsam paddelnd.«
Helenes Beziehung zu ihren Eltern, die Dynamik aus Abwertung und Übergriffigkeit, aber auch aus Mitgefühl und der Ohnmacht, erinnern an eigene Erfahrungen im Familienkontext. Als »fokussiert und hell beleuchtet«, beschreibt Helene zu Anfang ihre Wahrnehmung der Mutter und des Vaters, als diese sie vom Flughafen abholen: »Ich erinnere mich, dass ich müde werde, wenn ich bei den Eltern bin, wie unter einem leichten Stoff.«
Diese Familie, in der Überfülle herrschte, die aber — wer hätte es anders gedacht — den Familienmitgliedern kein Gefühl von Wohligkeit spendete, ist also eine Sorgegemeinschaft, die nun aufgelöst werden soll. Und obwohl den Eltern Fairness eine Herzensangelegenheit ist, zeigt sich, dass am Ende das Recht des reicheren Ehemanns Vorrang hat: Nicht beide Eltern können sich die Anwaltskanzlei Schwarz und Schwarz leisten.
»Mich interessiert die Art, wie über Dinge gesprochen wird. Was ist das Sprachmaterial, aus dem sich ein Diskurs zusammensetzt?«, so Nora Schramm. Sie weiß und dokumentiert, aus welchem Stoff die Sprache über Scheidung besteht. »Es gibt viel beratenden YouTube-Content von Anwält:innen, die einem jeden Schritt erklären.« Auch theoretische und politische Texte habe sie zu Beginn der Recherche gelesen.
Die Figur Helene habe sich aus einer Stimme und Sprache heraus entwickelt. »Ich habe den Text nur geschrieben, weil mich diese Stimme interessiert hat. Die anderen Figuren haben sich dann aus ihrem Blick heraus ergeben, weil sie ja immer über das Außen, immer über die anderen, spricht. Diese Eigenständigkeit der Sprache trägt mich sehr weit, ich glaube, ohne sie würde ich niemals einen Roman schreiben.« Dabei kennt Nora Schramm ihre Figuren nicht besser als die Menschen, die das Buch lesen. »Bei mir ist es nicht wie bei JK Rowling, dass ich hunderte Seiten in der Schublade liegen habe, in denen steht, wie das Leben der Figuren weitergeht, wie ihre Enkelkinder heißen werden oder ihre Haustiere«, sagt sie. »Das ist das, was das Schreiben für mich komplex macht. Ich habe nicht das Gefühl, darüber verfügen zu können. Für mich braucht eine Figur nur eine Stimme — sobald die da ist, kann man schauen, was sich anhand von ihr herausfinden lässt. Alles, was sie nicht erzählt, gehört für mich auch nicht in den Text.« Vor ihrem Roman hat Schramm Kurzgeschichten geschrieben. »Ich hatte nach jeder Kurzgeschichte das Gefühl, ich fange von Null an und vielleicht kommt jetzt auch nichts mehr. Das finde ich am anstrengendsten am Schreiben: dieses Warten auszuhalten.«
In »Hohle Räume« wird offensichtlich, dass Schramm beim Schreiben das Warten längst hinter sich gelassen hat. Obwohl die Ich-Figur rätselhaft und sonderbar wirkt, ist sie glaubhaft — auch die anderen Figuren im Roman wirken wie beobachtet und nicht wie ausgedacht. »Ich habe mir sehr viele Familienreportagen im Lokalfernsehen angeguckt. Ich gebe in den Mediatheken bestimmte Schlagworte ein, so was wie ›Vater‹.«
Mithilfe der unzusammenhängenden Ergebnisse aus dem Internet hat sich für Nora Schramm ein klareres Bild des Vaters im Roman ergeben. »Er muss sich immer beschäftigen, Beschäftigtsein ist seine Art.«, heißt es da — und trotzdem ist Passivität eine seiner wesentlichen Eigenschaften. Allgemein glänzen die Männer im Buch durch Abwesenheit, durch fehlende Präsenz. »Dadurch hatte ich lange das Gefühl, dass die Vaterfigur viel besser wegkommt als die Mutterfigur. Die Mutter ist präsent und trägt die Aushandlung mit, sie ist für die Konfliktlust der Tochter ein Gegenüber, während der Vater sich entzieht und dadurch fein raus scheint.« Dadurch wird der Mann, der das Haus besitzt, aber nicht weiß, »wo die Mutter die Bettbezüge aufbewahrt« zu einer Projektionsfläche für die Sehnsüchte der anderen Familienmitglieder. »Ich glaube, dass in vielen Familien Vaterfiguren die Freiheit haben, sich zu entziehen.«
Diese Lücken der Macht, die es innerhalb der Familie gibt und wer sie auf welche Weise füllt, werden in »Hohle Räume« verhandelt. Die Mutter, die im Roman wie eine mächtige Figur wirkt, weil sie im Haus waltet und aktiv ist, wird am Ende diejenige mit den materiellen Problem sein. »Daneben kann der Vater so traurig sein, wie er mag, er wird trotzdem zwei Häuser besitzen.«, fasst Schramm zusammen.
Durch die präzisen Beobachtungen des traurigen Vaters, der im Stich gelassenen Mutter und der sich aussparenden Tochter wirkt der Ton des Buches hart und zeitweise brutal. Gleichzeitig bewahrt »Hohle Räume« eine Komik und eine Leichtigkeit; nicht zuletzt dadurch, dass die Tochter Helene das elterliche Projekt der Scheidung mit Fortschreiten des Buches zu einem Kunstwerk umformuliert.
Nora Schramm: »Hohle Räume«, Matthes & Seitz, 237 Seiten, 22 Euro
Fr 28.6., zwischen/miete, 19.30 Uhr