Fahr Rad
Sie bringen Kinder aufs Fahrrad und FLINTA* aufs Rennrad, sorgen sich
um Radwege und Drängelgitter oder veralbern die fünf Monumente des Radsports. In Köln gibt es viele Menschen und Gruppen, die Fahrradfahren schöner und inklusiver machen. Christian Werthschulte hat sich mit ihnen aufs Rad gesetzt, Dörthe Boxberg hat sie dabei fotografiert.
Reinhold Goss steht an einer Kreuzung in Niederkassel-Uckendorf und fotografiert die Verkehrsschilder. »Das muss auch auf der anderen Straßenseite stehen«, sagt er und zeigt auf das Schild mit der Aufschrift »Fahrradstraße«. Ein Straßenschild ist zu niedrig, auch der Zebrastreifen ist nicht ordnungsgemäß. Dem ehrenamtlichen Fahrradbürgermeister der Stadt Köln fällt sowas auf — auch wenn er in Nachbarkommunen unterwegs ist. Rund einen Monat zuvor, als wir das erste Mal für diesen Text dort entlang gefahren sind, hat mich an der gleichen Stelle ein Auto angefahren. Die Tour endete im Krankenhaus. Und obwohl der Verkehr durch das kleine Dorf auch vier Wochen später eine Herausforderung ist, kommen wir beide diesmal unbeschadet über die Kreuzung.
Knapp anderthalb Stunden haben wir zu diesem Zeitpunkt auf dem Rad gesessen. Gestartet sind wir an den Poller Wiesen, dann haben wir uns auf Nebenstraßen langsam durch Porz getastet. Die Strecke hat Goss selbst ausgewählt, er ist sie schon oft mit dem Rennrad gefahren, wenn sein Thekenteam Scuderia Südstadt eine Ausfahrt gemacht hat. »Die Strecke hat kaum Ampeln«, erzählt er, »man kann sie auf dem Rad fast komplett fahren, ohne anhalten zu müssen.« Wir steigen trotzdem schon in Porz das erste Mal aus dem Sattel — an der Glashüttensiedlung. Im Jahr 1900 zogen hier die ersten Arbeiter:innen aus Belgien ein und machten das nahe gelegene Spiegelglaswerk »Germania« zum größten Deutschlands. Die Siedlungshäuser sind mittlerweile in Privatbesitz und stehen unter der Denkmalschutz. In der Direktorenvilla residiert eine AKP-Vorfeldorganisation. Trotzdem kann man sich beim Einfahren auf dem Kopfsteinpflaster ein wenig wie bei einem belgischen Radklassiker fühlen.
Von der Glashüttensiedlung führt mich Goss auf einen Kiesweg entlang der Bahnstrecke. Aber wir kommen nicht weiter, ein Bauzaun versperrt den Weg. Wir müssen zurück in den Autoverkehr, fahren einen Umweg. Egal, ob es Schlaglöcher sind, ein Radweg, der im Nichts endet, ein Poller oder eine Hecke, die beim Abbiegen den Blick versperrt — dem Fahrradbürgermeister fallen viele Kleinigkeiten auf, die das Radfahren weniger angenehm machen, als es sein könnte. »Als Fahrradbürgermeister mache ich mir Gedanken darüber, wie andere Leute mit dem Rad unterwegs sind«, sagt er, während wir langsam auf die Feld-, Wald- und Wiesenwege zwischen Porz und der Siegmündung einbiegen, durch die uns die erste Hälfte unserer Tour führt. Das Amt ist ein Ehrenamt, vergeben wird es von der niederländischen Nichtregierungsorganisation BYCS. Goss wurde 2021 der erste Amtsinhaber in Köln, außer ihm gibt es noch in Witten und München einen Fahrradbürgermeister. »Ein bißchen ist es, wie ein König ohne Reich zu sein«, sagt Goss, als wir an der Siegmündung Käsekuchen essen. Er wird zu Empfängen, Eröffnungen und Gremiensitzungen eingeladen, aber
hat keine Amtsbefugnisse. Weil er für die Grünen in der Bezirksvertretung Innenstadt sitzt, kann er Anträge und Anfragen stellen, aber in seiner Rolle als Fahrradbürgermeister möchte er überparteilich handeln: »Ich bin ja quasi der oberste Radfahrer, da ist es wichtig, alle Gesprächskanäle offen zu halten.« So kann er vermitteln, wenn sich die Fronten verhärten wie zuletzt beim gescheiterten Verkehrsversuch auf der Deutzer Freiheit. Auch als Teil der Initiative #RingFrei hat er Geschäftsleute und Radfahrende zusammengebracht, um auf den Ringen durchgängige Radspuren durchzusetzen. Mitte Juni ist seine Amtszeit geendet. Er habe sie überwiegend damit verbracht, das Amt im Bewusstsein der Kölner:innen zu verankern, sagt Goss: »Das ist mir gelungen. Manchmal kriege ich mit, wie Leute sagen: Guck mal, da fährt der Fahrradbürgermeister.« Er habe viele neue Rad-Initiativen kennenglernt, auch in der Verwaltung und bei anderen Institutionen sei der Fahrradbürgermeister als Ansprechperson etabliert und werde, wie zuletzt bei der Planung der Radwege für die umgebaute Mülheimer Brücke, einbezogen. Aber eine Radtour mit den Bezirksbürgermeistern oder ein Straßenrennen rund um den Ebertplatz haben wegen der Pandemie niemals stattgefunden. »Ich wünschte mir, es gäbe in Köln einen kleinen Etat, um den Radsport besser zu fördern. Rennradfahren wird gerade politischer«, sagt Goss und erzählt vom feministischen Radsportkollektiv Cyclits und dem Männlichkeitsworkshop bei der Deutschen Meisterschaft der Fahrradkuriere, die kurz vor unserer Tour stattgefunden hat.
Nach dem Käsekuchen nehmen wir die gemütliche Fähre über die Sieg und bekommen einen neuen Begleiter: den Regen. Er wird uns bis zum Ende unserer Tour nicht verlassen — nicht, als wir über die Autobahnbrücke bei Bonn über den Rhein fahren, nicht, als wir parallel zum Rhein durch ehemalige Fischerdörfer und über Felder fahren und etwas ungläubig vor dem Galgenbergsee in Rondorf stehen, der wegen eines Bauprojekts umgebettet wurde. Und auch nicht, als wir am Schloss Falkenburg in unseren Regenklamotten nebem dem Brautpaar halten, das dort Hochzeitsfotos macht.
Irgendwann will ich von Reinhold Goss wissen, ob ihn seine Zeit als Fahrradbürgermeister verändert hat. »Ja«, antwortet er. »Ich bin geduldiger geworden.«
Viva la Vulva!
Die »Cyclits« bringen feministisches Empowerment in die Kölner Radsportszene
Alexandra Jontschew und Janina Rönsch freuen sich. Die neuen Trikots der Cyclits sind gerade angekommen. Jetzt sitzen die beiden Vorstandsmitglieder des Radfahrkollektivs im Café Hallmackenreuther am Brüsseler Platz und bewundern das Muster: eine stilisierte Vulva in Regenbogenfarben. »Die Vulva taucht auch im Logo der Cyclits auf«, sagt Rönsch, die es gestaltet hat. »Wer sie nicht erkennt, sieht halt bunte Striche.« Das wirke erst einmal harmlos, sagt Alexandra Jontschew. »So wie ja unser Name Cyclits auch. Aber als wir zum ersten Mal auf einer Versammlung des Bundes Deutscher Radfahrer erklärt haben, woraus er sich zusammensetzt, standen auf einmal alle senkrecht da.«
Die Cyclits sind — falls das nicht schon klar war — ein feministisches Projekt. Sie wollen FLINTA* dazu ermutigen, aufs Rennrad zu steigen und den Spaß am Radsport zu entdecken. 2018 hatte Jontschew die Idee, einen eigenen »Girls Ride« ins Leben zu rufen. »Girls Rides machen Spaß und haben ein anderes Flair«, sagt sie. Die dafür eingerichtete WhatsApp-Gruppe wuchs schnell und es wurde deutlich, dass es eine bessere Organisation brauchte. 2021 gründete sich dann das »Cyclits Cycling Collective«, der erste Radsport-Verein von FLINTA* für FLINTA* in Deutschland — mit heute 120 Mitgliedern. »Die Vereinsgründung war ein wichtiger Schritt, um etwas bewirken zu können«, sagt Jontschew. Als Verein können die Cyclits Fördergelder erhalten und sich im Bund Deutscher Radfahrer organisieren. Auch rechtliche Probleme oder Versicherungsfragen lassen sich leichter klären.
Der Vereinszweck lautet: »Wir wollen das Radfahren inklusiver machen.« Dafür veranstalten die Cyclits »Rookie Rides«, die sich an Anfänger:innen auf dem Rennrad richten, zu den Rides an den Montagabenden treffen sich alle Mitglieder des Kollektivs, die Lust auf hohe Geschwindigkeiten haben. Zum feministischen Kampftag am 8. März, zur Vorbereitung auf »Rund um Köln« und zum Cologne Pride gibt es spezielle Ausfahrten, und bei den »Real Talks« erklären Fahrradmechanikerinnen wie Schaltung, Bremsen und sonstige Teile eines Rennrads ausgetauscht, verbessert oder repariert werden können. »Eine Fahrerin hat mir mal erzählt, dass sie zwei Jahre lang nicht alleine gefahren ist, weil sie Angst vor einem Platten hatte«, erzählt Jontschew. »Wir wollen FLINTA*s Unabhängigkeit, Selbstbewusstsein und ein stärkeres Selbstwertgefühl vermitteln.«
Bei all diesen Veranstaltungen dürfen auch Cis-Männer dabei sein, aber müssen dazu von einer FLINTA*-Person eingeladen werden. »Es ist wichtig, dass die Cyclits ein safer space für Frauen sind«, sagt Janina Rönsch. »In einer Männergruppe fragst du nicht so leicht, warum du wundgescheuert bist und was das mit deinem Sattel zu tun haben könnte.« Auch im Radsport ist der männliche Körper die Norm. Nirgendwo zeigt sich das deutlicher als bei Rennradsätteln. Diese sind standardmäßig so konstruiert, dass sie bei Männerkörpern keine Schäden im Intimbereich verursachen. Genau diese Schäden verursachen sie aber dann an vielen Frauenkörpern. Erst in den späten 10er Jahren kam ein Sattel auf den Markt, der auf die weibliche Anatomie abgestimmt war.
Die Cyclits stoßen in Leerstellen wie diese und wollen sie über den Austausch von FLINTA* untereinander schließen. Dafür gibt es Partys und Versammlungen, aber vor allem einen Discord-Server, über den sie das Leben des Kollektivs organisieren. Welche FLINTA*-spezifischen Themen tauchen dort auf? »Ein wichtiges Thema ist das zyklusorientierte Training«, erzählt Janina Rönsch. »Je nachdem wie der eigene Zyklus verläuft, kann es sinnvoll sein, ein Krafttraining anstelle eines Ausdauertrainings anzusetzen.« Auch die Vereinbarkeit von Radsport und Familie stellt sich für FLINTA* noch einmal anders dar. »Während einer Schwangerschaft und danach bricht oft das soziale Umfeld rund um das Radfahren weg«, sagt Janina Rönsch. Bei den Cyclits bekommen schwangere Mitglieder daher Cyclits-Babykleidung geschenkt, und ein eigener Discord-Kanal widmet sich Fragen rund um das Thema Kinder und Radsport: »Das geht von der Frage, welches Lastenrad am besten ist bis zum Tauschen von Radhelmen für die Kids«.
Bei den Cyclits läuft alles ehrenamtlich, viel Arbeit ist es trotzdem. Aber die Arbeit zahle sich aus. »Viele Vereine oder Brands kommen auf uns zu«, sagt Rönsch. »Es hat noch niemand gesagt, dass wir nerven. Aber das tun wir sicher und müssen wir auch, sonst verändert sich nichts.« An solchen Veränderungen müssten auch Männer mitarbeiten: »Männer müssen ernstnehmen, dass hinter den Cyclits ein Bedürfnis steht, das nicht belächelt werden kann«, sagt Rönsch. »Sie sollen zuhören und sich selbst hinterfragen — einfach keine Sexisten sein.«
Zehn Tage später, Anfang Juni, erlebe ich, was die Cyclits meinen, wenn sie FLINTA* zu Unabhängigkeit und Selbstbewusstsein verhelfen wollen. Am Lenauplatz in Ehrenfeld, startet ein Rookie Ride, perfekt für Rennradmuffel wie mich. Etwa 50 Teilnehmer:innen sind gekommen, die Strecke führt in den Nordwesten über die Land- und Feldstraßen nach Stommeln und wieder zurück. Am Anfang werden kurz die Handzeichen erklärt und das Feld der Fahrer:innen in zwei Gruppen aufgeteilt, damit es leichter fällt, zusammenzubleiben.
Unterwegs komme ich — leicht schnaufend — ins Gespräch mit ein paar Teilnehmerinnen. Für sie alle ist es der erste Groupride überhaupt und sie alle haben sich besonders vom feministischen Anspruch der Cyclits angesprochen gefühlt. »Es ist eine wertschätzende Atmosphäre«, sagt eine. Trotz des recht zügigen Tempos fühlt sich die Ausfahrt stressfrei an. Reißt die Gruppe zu weit auseinander, ruft jemand »Kürzer!« und die Fahrer:innen vorne werden langsamer. Beim einzigen Anstieg der Tour erklärt Alexandra Jontschew, dass alle in ihrem individuellen Tempo fahren sollen, und als sich ein Autofahrer in die Gruppe drängen will, stellt sie ihn zur Rede. Nach zwei Stunden kommen wir wieder am Lenauplatz an. »Voll schön« sei es gewesen, sagt eine Teilnehmerin. Finde ich auch.
Mit Style, Humor und Herzblut
Roaar will dem Rennradfahren den Spaß zurückgeben
Die Crew von Roaar erkennt man immer. Auch im Hinterhof der Maastrichter Straße, direkt neben der Stadtrevue, stechen die khakifarbenen Trikots mit dem Roaar-Logo sofort heraus. Etwa 20 Menschen treffen sich an diesem Juni-Donnerstag für einen Gravel Ride. Es geht über den Stadtwald in Richtung Hürth, eine beliebte Ecke, um Gravelbike zu fahren. Wir sind auf Feld- und Waldwegen unterwegs, immer wieder weichen wir Schlaglöchern aus und suchen die beste Spur zwischen Matsch und Pfützen, um mehr Grip zu haben. Das Tempo ist zügig, aber nicht hoch, und dennoch komme ich nicht so richtig mit. Nach dem Radunfall vor sechs Wochen fahre ich das erste Mal wieder querfeldein, und fühle mich nicht richtig sicher. Zudem geht jeder Schlag direkt auf den Knöchel, den ich mir dabei geprellt habe. Ich hänge also etwas hinter dem Feld, aber bin dafür nicht alleine. Mit mir am Ende ist Carsten von Roaar — wenn auch eher unfreiwillig. Er begleitet die Tour als Guide und muss aufpassen, dass niemand zurückbleibt. So wie heute ich. »Ich habe während Corona angefangen, Rennrad zu fahren,« erzählt er. Offenbar mit Begeisterung, erst kurz vor unserem Ausflug ist er den Mont Ventoux heraufgefahren, einen der härtesten Anstiege der Tour de France — mehr als 1.600 Höhenmeter auf knapp 21 Kilometern, durchschnittliche Steigung 7,6 Prozent. »Beeindruckend«, denke ich und schnaufe weiter. Wie ist Carsten zu Roaar gekommen? »Ich bin öfters bei den Ausfahrten mitgefahren, und irgendwann hat mich Olli gefragt, ob ich nicht Lust habe, auch mal Guide zu sein.«
Olli, das ist Oliver Hochscheid. Der Designer hat Roaar kurz vor der Corona-Pandemie mit zwei Freunden und dem Kölner Ex-Radprofi Rick Zabel ins Leben gerufen. Eigentlich wollten die vier ein Fahrradcafé eröffnen, aber der Versuch war aus verschiedensten Gründen wenig erfolgreich. »Wir haben aber dort immer wieder Ausfahrten angeboten, die auf großes Interesse gestoßen sind«, sagt Hochscheid knapp eine Woche vor unserer Graveltour bei einem Kaffee im Belgischen Viertel. Und damit hatte Roaar eine Nische gefunden. Sie organisieren Workshops zur Radreparatur und für Erste Hilfe bei Unfällen, außerdem Radtouren, bei denen man sportlich unterwegs ist, ohne auf die Wattzahl oder die Trittfrequenz zu achten. Stattdessen steht der Spaß am Radsport im Vordergrund: »Wichtig ist immer, das alles nicht zu ernst zu nehmen — außer wir nehmen selbst an Rennen teil.« Wenn im Frühjahr die Radsport-Klassiker ausgetragen werden, veranstaltet Roaar eine Reihe von Ausfahrten die ihnen nachempfunden sind. Die »Hellingen«, die Hügel der Flandern-Rundfahrt, werden ins Bergische Land verlegt, die herausfordernden Kopfsteinpassagen von Paris-Roubaix entdeckt die Crew auf den rumpeligen Straßen rund um Brühl und den südlichen Kölner Vororten. Und die Ausfahrt zu Mailand—San Remo haben sie einmal an der Pizzeria Milano begonnen und an der Eisdiele San Remo beendet. Damit erreichen sie ein großes Publikum: In der Regel sind die Rides von Roaar schnell ausgebucht.
»Besonders seit der Pandemie wächst die Radsport-Bubble«, sagt Hochscheid. »Wir besetzen dabei auch eine Nische für Anfänger und Anfängerinnen, die meistens wenig Möglichkeiten haben, sich irgendwo anzuschließen.« Wer mit dem Radsport anfängt, stößt auf eine Welt, in der viele davon auszugehen scheinen, der einzige Weg, um sportlich zu sein, sei es, die Profis zu imitieren. Auf den einschlägigen Internetseiten geht’s um den Kraftaufwand (die berüchtigten Watt/kg), Schwellwerte für die Umwandlung von Fett oder Kohlenhydraten in Energie sowie um Trainingspläne, deren Dichte in Freizeitstress ausartet. Bei Roaar wird zwar auch flott gefahren, aber der Umgang ist niedrigschwelliger: Bei der Fahrt wird geplaudert, wir bekommen Tipps zum Fahren im Windschatten, und wir werden daran erinnert, ausreichend Nahrung zu uns zu nehmen. »Die Leute sollen sich bei uns wohlfühlen«, sagt Hochscheid. »Wir merken, dass sie zu unseren Rides kommen, um zu socializen, um neue Strecken kennenzulernen oder mal eine andere Ecke zu sehen. Aber nicht, um sportliche Höchstleistungen zu vollbringen.«
Ein wenig spiegelt das auch Hochscheids eigenen Weg zum Radsport wider, den er Anfang der Nullerjahre für sich entdeckt hat. »Am Anfang habe ich mich geschämt, mit Radhose und Helm zu fahren«, erzählt er.
Es war die Zeit der großen Dopingskandale, die den Radsport-Boom der 90er Jahre zunichte machten: »Selbst ich als Hobbyfahrer bin damals mit Doping-Sprüchen veralbert worden.« Mittlerweile sei Radsport eher Lifestyle als Sport, sagt Hochscheid und führt das auch auf Bekleidungsmarken wie Rapha zurück, die ab den späten Nullerjahren mit stylisher, retro-inspirierter Radkleidung erfolgreich wurden. »Mich als Designer hat das sofort abgeholt«, sagt er. Und es stimmt ja auch: Selbst bei »Rund um Köln« sind Trikots von Radsport-Teams mittlerweile selten geworden. Auch Roaar werden mittlerweile von einem Kölner Sportbekleidungs-Unternehmen gesponsort, das die Crew neben einem Radhersteller, einer Helmfirma und einer Firma für Radcomputer unterstützt. So kann sie fast alle Veranstaltungen kostenlos anbieten. »Ich mache das mittlerweile hauptberuflich«, sagt Oliver Hochscheid. »Aber in Roaar steckt vor allem viel Herzblut unserer Crew. Ohne die wäre es schwierig.«
Radfahren für alle
Anna Genser setzt sich dafür ein, dass Kinder in Köln besser Radfahren können
Warum tue ich mir das eigentlich an? Es ist Sonntagnachmittag, die Sonne scheint und ich kämpfe mich den fünften Berg des Tages hoch. Der Fahrradcomputer zeigt die Steigung: 10 Prozent, 12 Prozent, 14 Prozent. Die Anzeige der Geschwindigkeit habe ich ausgestellt, wie langsam ich genau bin, will ich nicht unbedingt wissen. Schließlich bin ich am Ende — »literarisch«, wie die jungen Leute im Internet schreiben. In Lichtenberg biege ich zweimal um die Ecke und weiß auf einmal, warum ich mir das angetan habe: Vor mir erstrecken sich schöne Wiesen, im Hintergrund sanfte Hügel und über mir ein schöner blauer Himmel. Hinter mir ist der Mayerhof, ein Pferdehof, auf dem die Tiere mit Heu aus eigenem Anbau gefüttert werden. Er ist einer von vielen Bio-Bauernhöfen, die ich heute schon angefahren habe. Nach einer kurzen Plauderei mit der Betreiberin stürze ich mich in die Abfahrt — die nächste Station ist ein Biocafé, und ich habe Hunger.
Der Grund, warum ich mich bei schönstem Sonnenwetter die Anstiege im Rhein-Sieg-Kreis hochquäle, ist Anna Genser. Sie ist schon einen Teil der Tour mit ihrem Mann und ihren drei Kindern gefahren und hat sie mir — und den Stadtrevue-Leser:innen — empfohlen. Und tatsächlich ist die Strecke zwar anstrengend, aber durchaus familienfreundlich: Der Untergrund ist fest, aber man ist kaum an viel befahrenen Hauptstraßen unterwegs, so dass auch Kinder sich sicher auf dem Rad bewegen können. »Kinder sollen auf dem Fahrrad selbstständig und sicher sein«, sagt Anna Genser. Das ist auch das Ziel der Kidical Mass, bei der sie sich engagiert. Als Teil davon organisiert sie in Ossendorf, wo sie wohnt, den »Fahrradbus«. Die Idee: Eltern und Schüler:innen fahren gemeinsam Fahrrad und bringen die Kinder so zu den unterschiedlichen Grundschulen im Veedel. Wie bei einer richtigen Buslinie gibt es fixe Abfahrtszeiten und Haltestellen, so dass man sich zwischendurch anschließen kann. »Wir wollen den Fahrradbus so inklusiv wie möglich machen«, sagt Anna Genser. Sie hat vor kurzem eine Fahrradrikscha geschenkt bekommen, mit der auch Kinder mit Behinderung am Fahrradbus teilnehmen können.
Das Fahrrad hat schon immer eine wichtige Rolle im Leben von Anna Genser gespielt, obwohl sie aus einer »Autofamilie« kommt, wie sie sagt. Ihr Vater hat für einen Mineralölkonzern gearbeitet und Oldtimer gesammelt. Als sie nach Studium und Berufseinstieg in Großbritannien vor etwa einem Jahrzehnt nach Köln zurückkehrte, kam sie beim »Tag des Guten Lebens« mit der Kölner Radbubble in Berührung: »Und durch meine Kinder bin ich dann zur Kidical Mass gekommen.« Eine wichtige Station auf diesem Weg war die Einschulung ihrer ältesten Tochter. Sie besucht die Montessori-Grundschule in Ossendorf, die in einer Sackgasse liegt. »Da herrschte morgens Verkehrschaos«, sagt Anna Genser. Über die Kidical Mass hat sie das Konzept der Schulstraßen kennengelernt. Dabei wird die Straße, an der eine Schule liegt, für einen bestimmten Zeitraum für den Autoverkehr gesperrt, so dass nur Anwohner:innen, Pflegedienste, Müllabfuhr oder ein Rettungswagen sie nutzen können. Die Kinder sollen so genügend sicheren Raum vor der Schule haben und Eltern sollen dazu ermutigt werden, ihre Kinder mit dem Rad oder dem ÖPNV zur Schule zu bringen. 2021 haben Genser und andere Eltern dann die Straße vor der Montessori-Schule mit einer »Schulstraßen-Demo« für den Autoverkehr gesperrt. »Das war ein gutes Gemeinschaftserlebnis«, sagt sie heute. So seien Eltern ins Gespräch gekommen und auch die Anwohner:innen hätten erleben können, was eine Schulstraße für sie bedeutet.
Die Demo war ein Erfolg. Anfang des Jahres hat das Verkehrsministerium NRW einen Erlass veröffentlicht, der die Einrichtung von Schulstraßen ermöglicht, und die Montessori-Schule ist eine von vier Kölner Pilotschulen, an denen das Konzept erprobt wird. Anna Genser hat den Prozess begleitet, hat Eltern an anderen Schulen gecoacht und gemeinsam mit den Aktivist:innen der Kidical Mass das Konzept bei der Konferenz der Verkehrsminister:innen der Länder in Köln vorgestellt. »Meine Tochter war in der ersten Klasse, als wir angefangen haben. Die Umsetzung kommt, als sie die vierte Klasse verlässt«, sagt sie. »Für Kölner Verhältnisse ist das Lichtgeschwindigkeit.« Im internationalen Vergleich hinke Köln jedoch immer noch hinterher, meint Anna Genser und erzählt von Schulstraßen in Paris, die mit versenkbaren Barken abgesperrt werden. Und in Dänemark existiere ein Netz aus Radrouten speziell für Kinder, während deren spezielle Bedürfnisse in den Kölner Radverkehrskonzepten nicht thematisiert würden: »Dabei profitieren alle davon, wenn wir die Fahrrad-Infrastruktur auf Kinder ausrichten.«
Vielleicht ist das ein Thema, dem sie sich in ihrem neuen Ehrenamt widmen kann. Seit Mitte Juni ist Anna Genser die neue Fahrradbürgermeisterin Kölns. Für ihre Amtszeit hat sie sich einiges vorgenommen. Ihren Arbeitgeber Rewe will sie radfreundlicher machen, die Infrastruktur in Ossendorf weiter verbessern. Darüber steht jedoch das Ziel, das Radfahren in Köln inklusiver machen, damit noch mehr Kinder die Möglichkeit haben, sich aufs Rad zu setzen. »In jeder Klasse gibt es Kinder, die nicht radfahren können«, sagt Anna Genser. »Das ist ein Armutszeugnis, finde ich.«