Kreuzt die Abbey Road: Billie Eilish

Wie geht Erwachsen-Werden?

Ein Blick auf Billie Eilish und ihr neues Album »Hit Me Hard and Soft«

Sorry, falls das zu hart und unfundiert rüberkommt, doch von all den großen amerikanischen Talkshow-Hosts halte ich Jimmy Kimmel für den popkulturell ungebildetsten. Leute wie Stephen Colbert oder sogar Jimmy Fallon, der ja wenigstens ein passabler Dylan/ Springsteen/ Young-Imitator ist — ganz zu schweigen von Legenden wie Conan O’Brien und David ­Letterman —, sind ihm da einfach ­voraus. Ist auch Gefühlssache, klar, basierend auf flüchtig angeschauten YouTube-Clips, die vermutlich eh keine augenöffnende Kulturkritik enthalten sollen. Auch klar.

Doch in einem seiner Interviews hat Kimmel was Tiefgreifendes gesagt, wenn auch eher so dahin und hier nun völlig aus dem Kontext gerissen: »I think you can overthink things sometimes and outsmart yourself.« Dass man also manchmal zu viel nachdenke und sich dabei selbst überliste.

Zu Gast waren damals, im Okto­ber 2023, der coolste Popstar der Welt, Billie Eilish, und ihr produzierender Bruder Finneas. Brav lauschten sie Kimmels formloser Aussage, die eigentlich nur einen semi-lustigen Witz über seine Kinder vorbereiten sollte, und nickten ihm zustimmend zu; weil die beiden dieses Phänomen wohl viel besser kennen als Kimmel selbst, auch wenn sie etwa 30 Jahre jünger sind. Heute wissen wir, dass die Arbeiten an »Hit Me Hard and Soft«, dem damals noch nicht angekündigten, vor wenigen Wochen erschienenem dritten Studioalbum von Billie Eilish, mit Zweifeln und ewigem Herumprobieren verbunden waren. Die Platte ist vielleicht nicht »overthink«, zum Glück, definitiv aber ultra-ausgetüftelt. Kimmels Warnung war also berechtigt. Das talentierte Geschwisterpaar ist gerade haarscharf am »outsmarting« ­vorbeigeschrammt, bewusst und gekonnt.

Eindeutig hatte hier jemand vor, ein Meisterwerk zu machen: Immer wieder tauchen in den Songs die gleichen, jedesmal leicht abgeänderten Motive auf, Songs gehen harmonisch ineinander über und werden am Ende nochmal zusammengefasst (vom abschließenden Schlusslicht-Duo aus »Bittersuite« und »Blue«). Auf »Hit Me Hard and Soft« hängt alles zusammen. Oft kommen solche Alben zu glatt und, nun ja, zu durchdacht rüber — ganz so, wie Kimmel anmerkte —, doch bei »Hit Me Hard and Soft« funktioniert das Durchgearbeitete auffällig gut. Es ist ein fließendes Album, das einem im bestmöglichen Sinne durch die Finger gleitet. Man wollte vielleicht etwas wie das Medley auf der B-Seite von »Abbey Road« erschaffen und ist der Sache beeindruckend nah gekommen.

Einen künstlerischen Anspruch hatte die eigenwillige Popmusik von Billie Eilish immer schon. In dieser Hinsicht ist ihr Drittwerk kein Left-Turn. Doch manche Gesten auf »Hit Me Hard and Soft« fühlen sich nochmal größer an. »L’Amour De Ma Vie« verwandelt sich irgendwann zur Autotune/Synthwave-Achterbahn, »The Greatest« zieht am Ende alle Register und ja: wird seinem Namen gerecht. Gleichzeitig lässt ein eleganter, zurückhaltender Song wie »Chihiro« — benannt nach der Protagonistin des Miyazaki-Meisterwerks »Spirited Away« — genügend Raum für Finneas, auch diesmal wieder seine smoothen Basskünste zu präsentieren, und macht den eigentlichen Zaubertrick der Platte deutlich: Sie fühlt sich ebenso pompös wie unaufdringlich an. Mal brechen die Dinge auf dich ein, in anderen Momenten schleichen sie sich heran.

Dass Billie Eilish auf ihrem ohne­hin schon gigantisch hohen Level im Mainstream ein solches Album aufgenommen hat — unter selbstgesetzten Bedingungen, im eigenen Tempo, eigentlich nur für den Eigengebrauch —, schein unglaublich. Schon auf ihrem zweiten Album »Happier Than Ever« (2021) haben sie und Finneas verstanden, wie unpassend es wäre, den kommerziellen Erfolg ihres Hit-gefüllten Debütalbums reproduzieren zu wollen.

Man muss diesen Erfolg vielmehr als Legitimeirung sehen, ­danach alles Mögliche ausprobieren zu können. Der künstlerische Weg ist der richtige Weg, also ist »Hit Me Hard and Soft« das bestmögliche Drittwerk geworden, das Billie Eilish hätte machen ­können. Man kann nur staunen, dass vielleicht noch keine 22-­­jährige Popsängerin jemals eine stärkere Diskographie hatte.

›I think I’m aging well‹, sang sie damals, ehe es um das ­Heran­wachsen in der Öffentlichkeit und die damit ver­bundene Bürde ging

In erster Linie hat dieser Schwerpunkt auf ein zusammenhängendes, nicht mal ansatzweise auf Kommerz fokussiertes Werk natürlich etwas mit Reife zu tun. So hören wir Billie Eilish nicht nur beim Erwachsenwerden zu, sondern auch dabei, wie sie das selbst thematisiert. Während das jugendliches Debütalbum »When We All Fall Asleep, Where Do We Go?« (2019) noch damit begann, wie Eilish ihre sabbrige Zahnspange herausnimmt — heute würde Eilish zudem keinen Song mehr darüber machen, wie doll sie die großartige Sitcom »The Office« liebt (»My Strange Addiction«) —, ging »Happier Than Ever« bereits mit dem Song »Getting Older« los. »I think I’m aging well«, sang sie damals, ehe es um das Heranwachsen in der Öffentlichkeit und die damit verbunde Bürde ging.

Der Opener »Skinny« schließt nun daran an: »Twenty-one took a lifetime«, singt Eilish über seichte Gitarrenarpeggios — ein Stilmittel, das immer Ernsthaftigkeit vermittelt — und fragt sich, ob sie mittlerweile ihrem Alter entsprechend handelt. Beim Nachdenken fällt mir auf, dass Erwachsenwerden für sie natürlich etwas völlig anderes bedeutet, weil die ganze Welt ihr dabei zuschaut und obsessive Nerds darüber einen doppelseitigen Artikel in der Stadtrevue schreiben. Natürlich fühlt man sich dann daneben, wenn’s einem eigentlich gut geht; natürlich ist man nicht automatisch glücklich, wenn man in den Augen anderer gut aussieht. So ist »Skinny« ein Song darüber, dass das, was auf den ersten Blick positiv wirkt, beim weiteren Betrachten oft unschön ist.

Und dann diese supertolle Zeile: »But the old me is still me and maybe the real me and I think she’s pretty«. Da steckt so viel drin — über Identifikation und Wahrnehmung, über Selbstakzeptanz und Weiterentwicklung. Akzeptieren zu können, dass man immer noch die selbe Person ist, macht einen erwachsen, und das heißt, dass man eben doch nicht mehr dieselbe Person ist. Das aktuelle Ich zu mögen bedeutet, auch alle anderen Ichs zu mögen und dadurch ein neues Ich zu werden, das den alten Ichs wiederum nicht unähnlich ist. Demnach ist es auch kein Problem, dass es auf »Hit Me Hard and Soft« wieder um altbekannte Themen geht: Verflossene Liebschaften, ja, aber auch wieder Fame, Bodyshaming und unfaire Reaktionen im Internet. Wer ihr hier vorwürfe, sich zu wiederholen, hat wohl den Schuss nicht gehört.

Nur ein Song auf »Hit Me Hard and Soft« hat echtes Radiopotenzial (nochmal: krass bei einer Künstlerin von diesem kommerziellen Kaliber). In »Lunch« gibt’s wieder eine dieser ausgesprochen simplen, nur aus ein paar Tönen bestehenden, aber eine Lücke im Groove findenden Melodie, die Billie Eilish auch schon in »Bad Guy« benutzt hat. Über ihre Bi-Sexualität singt sie — vor ein paar Jahren war das großes Thema, als das Variety Magazin sie unerwünschter Weise geoutet hat —, wenn auch eher locker und humorvoll (»She dances on my tongue, tastes like she might be the one«). Keine große Sache, das bin ich halt, take it oder verpiesel dich. Zwischen den Zeilen sieht man sie grinsen. Nein, hier wurde gar nichts überdacht. Alles organisch.

Zurück zum Kimmel-Interview im Oktober 2023. Bille Eilish damals: »Finneas und ich sind beide nicht damit einverstanden, wenn ein Künstler seiner eigenen Musik gegenüber sehr hasserfüllt ist. Ich finde das sehr frustrierend, weil: Warum macht ihr das dann? Wir sind beide große Fans von dem, was wir machen, ich liebe meine eigene Musik. Sie verändert sich definitiv und wandelt sich, bei mir wird sie zu was auch immer.« Diese Liebe für die eigene Musik hört man auf »Hit Me Hard and Soft« sofort heraus — gerade deshalb ist das Album so gelungen. Wir haben mit einem Diss gegen Jimmy Kimmel begonnen und werden mit einem weiteren Diss enden: Taylor Swift könnte sowas nicht mal im Traum.