The Substance
»Haben Sie jemals von einer besseren Version von sich selbst geträumt? Jünger, schöner, perfekter?« Die strukturelle Diskriminierung von älteren Frauen ist omnipräsent. Auf jedem Social-Media-Kanal locken unzählige Anti-Aging-Produkte, Gesichtsfilter lassen Falten und Augenringe verschwinden. Die patriarchale Vorstellung, dass nur ein junger Körper schön sein kann, ist immer noch bei vielen Frauen präsent. So produziert die Gesellschaft viele Frauen, die sich selbst hassen. Dieses Thema weidet Coralie Fargeat in ihrem bildgewaltigen Horrorfilm »The Substance« aus. Im Mai bekam der Film in Cannes den Drehbuchpreis.
2017 debütierte die französische Regisseurin mit ihrem radikalfeministischen Rache-Thriller »Revenge«, mit »The Substance« überzieht sie den body horror eines David Cronenberg ins Grotesk-Komische.
Elisabeth Sparkle, furchtlos verkörpert von Demi Moore, ist ein sinkender Stern am Hollywoodhimmel. Doch immerhin darf sie noch in einer Aerobic-Sendung im Jane-Fonda-Style vorturnen. Nicht nur der Teppich im TV-Studio — der gleiche wie in Kubricks »The Shining« — weist auf den kommenden Horror hin.
Selten wurde der Selbsthass den Frauen entwickeln können, unverblümter dargestellt
An ihrem fünfzigsten Geburtstag bekommt sie mit, dass ihr schmieriger Produzent Harvey (Dennis Quaid) sie absägen will, um mit einer jüngeren Nachfolgerin die Zuschauerzahlen wieder zu erhöhen. Gnadenlos nah geht die Fischaugen-Kamera ran an den schmierigen Produzenten, wenn er sich bei einem Essen die Shrimps in den Mund stopft, während er Elisabeth nebenbei verbal demütigt. Fargeat zeigt stets, was sie zu sagen hat — eine große Stärke des Films. Auch das überlebensgroße Porträt von Elisabeth auf der Höhe ihres Ruhms, das in ihrem Luxusappartement hängt, spricht Bände.
Nach einem Unfall steckt ihr ein junger Pfleger einen Daten-Stick zu. Darauf bewirbt eine zwielichtige Bioengineering-Firma die titelgebende Substanz mit den eingangs zitierten Worten. Mit dem Serum könne man ein jüngeres Ich von sich selbst reproduzieren — vorausgesetzt man hält sich an ein paar Regeln. Obwohl Elisabeth sich das Zeug in einer schäbigen Gegend besorgen muss und nie einen Verantwortlichen zu Gesicht bekommt, lässt sie sich in ihrer Verzweiflung darauf ein.
Schon bald krümmt sie sich auf dem Boden ihres Badezimmers und »gebiert« unter höllischen Schmerzen ihr zweites Ich: Sue. Für exakt sieben Tage darf Elisabeth in dem knackigen Körper von Sue wohnen, ihre alte Hülle wird unterdessen mit einer Nährstofflösung versorgt. Ihr zweites Ich Sue (ebenfalls großartig: Margaret Qualley) ergattert den Job als Nachfolgerin in Elisabeths Aerobic-Show. Übertrieben nah lässt Fargeat die Kamera immer wieder an ihren Schenkeln, ihren Pobacken, ihren Schamhaaren entlanggleiten und karikiert so den nicht tot zu kriegenden male gaze des Hollywood-Kinos.
Nach exakt sieben Tagen müssen die beiden wieder tauschen — ohne Ausnahme, wie die mysteriöse Stimme an der Substance-Hotline betont. Doch schon bald beginnt Sue, die nur noch Verachtung und blanken Hass für ihr doppelt so altes Ich übrig hat, ihre Zeit zu überziehen, was furchtbare Konsequenzen hat. Die beiden, die eigentlich eins sein sollten, beginnen einander zu hassen und zu boykottieren — und der Film wird mehr und mehr zum krassen Albtraum, mit Körperdeformationen, bitterschwarzem Humor und einem infernalischen Techno-Score. Selten wurde der Selbsthass, den Frauen entwickeln können, unverblümter dargestellt. Das Ganze mündet in einem absurd-blutigen Finale, im Vergleich dazu kann man die Blutdusche in Brian de Palmas »Carrie« als sanften Landregen bezeichnen.
Fargeats erbarmungslose Tragikomödie erinnert an »Das Bildnis des Dorian Gray«, nur dass Oscar Wilde sich den visuellen Horror, den das Zeitalter von CRISPR und Bioengineering hervorbringen vermag, wohl in seinen dekadentesten Albträumen nicht hätte vorstellen können.
USA 2024, R: Coralie Fargeat
D: Demi Moore, Margaret Qualley, Dennis Quaid
140 Min. Start: 19.9.