Schmalzfrei
Dass ich — zumindest in meiner Wirkung nach außen — ein gemütlicher Typ bin, wurde mir erst letztens bestätigt. Ein schönes Kompliment, finde ich! Und weil ich anscheinend so wirke, gefällt mir der unangestrengte Indie-Rock von MJ Lenderman wohl so unglaublich gut. Das ist bescheidene Musik, die komplett zufrieden mit sich selbst ist. Übermäßig spürbare Ambitionen machen die meiste Kunst doch eh kaputt, oder? Also will MJ Lenderman vor allem locker wirken. Er klingt humorvoll, aber nicht albern; sentimental, aber nicht weinerlich; wie aus einer vergangenen Ära, aber nicht retro. Seine Stimme ist passend dazu schluffig und unperfekt, mit anderen Worten: glaubwürdig. Das waren jetzt einige Adjektive, aber jedes ist essenziell für die Beschreibung der wunderbaren Lenderman-Ästhetik.
Man nehme zum Beispiel »She’s Leaving You«. Rein nach den Zutaten würde man diesem Song skeptisch gegenüberstehen. Handelt es sich doch um eine Country-esque Rocknummer über einen scheinbar fiktiven Boomer in der Midlife-Crisis, der das ultralangweilige Blues-Gedudel von Eric Clapton verehrt und sich vor lauter Verwirrung ’nen Ferrari mietet. Puh, brauch ich das? Und dann hört man, mit wie viel Swag der 25-jährige Singer/Songwriter aus Asheville, North Carolina, das Ganze rüberbringt … Neil Young & Crazy Horse schwingen in der ebenso rustikalen wie melancholischen Performance dieser Songs mit, genauso wie das Werk der vielleicht stilvollsten Rockgruppe der 60er- und 70er-Jahre: The Band. (Dass gerade der Song »You Don’t Know The Shape I’m In«, dessen Titel eine klare Referenz an The Band ist, mit seinen Drumcomputer- und Klarinettentupfern am wenigsten nach dem Werk dieser Legenden klingt, passt zur halbironischen Art von MJ Lenderman.)
Das neue Album »Manning Fireworks« ist Lendermans erste Veröffentlichung auf dem aktuell besten Indie-Label der Welt, ANTI-Records, und wurde im Vergleich zu seinen vorherigen Platten deutlich hochwertiger produziert — weniger LoFi, mehr Klarheit. Die lärmigen Einflüsse von Dinosaur Jr. hat der ursympathische Musiker zurückgeschraubt, stattdessen wird häufiger zur Akustikgitarre gegriffen. Wo sein letztes, ebenfalls großartiges Werk »Boat Songs« noch einen rohen DIY-Charakter hatte (und voll mit amerikanischen Sportreferenzen war), ist »Manning Fireworks« nun auf dem handwerklichen Level von zwei der besten Alben des laufenden Jahrzehnts, an denen MJ Lenderman als talentierter Gitarrist beteiligt war: »Rat Saw God« von Wednesday und »Tigers Blood« von Waxahatchee. Immer mehr wird Lenderman zu einer der prägendsten Indie-Figuren dieses Jahrzehnts und steht repräsentativ für die aktuellen Country-Tendenzen innerhalb dieses Genres.
»Please don’t laugh, only half of what I said was a joke«, singt er einmal und sorgt für eine Art Meta-Moment, da sich seine Musik tatsächlich durch eine gleichmäßig aufgeteilte Mischung aus Humor und Sentimentalität auszeichnet. Die bereits letztes Jahr veröffentlichte Lead-Single »Rudolph«, die ich schon damals zum Song des Jahres kürte, erwähnt zum Beispiel den »Cars«-Protagonisten Lightning McQueen und nutzt eine Referenz an Bob Dylans »Blowin’ in the Wind« als gekonnten Diss (»How many roads must a man walk down ’til he learns/He’s just a jerk …«), ehe Lenderman davon singt, wie gerne er irgendein Seminar schwänzt, um Zeit mit seiner Geliebten zu verbringen. Von funny zu herzerwärmend, immer und immer wieder: So nutzt der Singer/Songwriter das komische Bild einer Smartwatch an anderer Stelle als Symbol dafür, wie alleine er sich fühlt. Er pickt sich also Kleinigkeiten heraus und findet erst dann etwas Universelles darin, wodurch seine Musik so herrlich schmalzfrei rüberkommt.
Der letzte Track des Albums, »Bark At The Moon«, ist einer der besten Songs aus MJ Lendermans gesamter Karriere — auch, weil der Musiker uns schon in der ersten Zeile ins Gesicht lügt. Er habe seinen Sinn für Humor verloren, singt er und weiß natürlich, dass das nicht stimmt. Denn kurz danach kommt eine dieser Zeilen, bei der ich jedes Mal grinsen muss: «Don’t move to New York City baby, it’s gonna change the way you dress« (nachgeschoben wird außerdem ein augenzwinkerndes »SOS«). MJ Lenderman hat noch nie die Mona Lisa gesehen, teilt er uns mit; stattdessen spiele er lieber »Guitar Hero«. Da weiß jemand ganz genau, wer er ist. Thank god for MJ Lenderman!
Tonträger: MJ Lenderman, »Manning Fireworks«, ist bereits auf Epitaph Europe/Indigo erschienen