Kafkas »Bau«: Das Disdance Project über die eigenen Bunker, Foto: Disdance Project

Wurst und Wirkung

In der »Alten Wursterei Ehrenfeld« macht das Kölner Ensemble Disdance Project interaktives Video-Tanztheater für alle und adaptiert dafür Franz Kafka

»Was sind deine Ängste?«, fragt mich mein Handyscreen, mitten im ­Zuschauerraum. Und ich kann nicht anders, als ehrlich zu antworten, irgendwas mit toxischer Männlichkeit, Politik und Donald Trump. Die anderen Fragen beantworte ich gleich mit, sie sind mindestens ebenso intim, drücke auf »senden«. Dann beginnt auf einem der drei Bühnenbildschirme die Tagesschau, Punkt acht Uhr: die Verkörperung all dessen, was in der Welt gerade Angst macht. Währenddessen steht da die ­Tänzerin und Performerin Paula Scherf in kurzem Kleid, mit einem Aperol Spritz in der Hand fordert sie uns dazu auf, Antworten zu tippen.

Gelandet bin ich in der neuesten Arbeit des Kölner Ensembles Disdance Project. Inszeniert haben sie »Der Bau« — eine späte Erzählung von Franz Kafka. Darin geht es um ein Tier, das sich in einen Schutzraum zurückzieht, ihn ausbaut. Es durchlebt Gefühle von Geborgenheit, aber zunehmend auch Paranoia, und will der »Gegnerschaft der Welt entfliehen«. Was gibt mir selbst Schutz? Vor allem die Natur, tippe ich in die Disdance-App. Jetzt beginnt die Performerin ihren fein gearbeiteten, multimedialen Tanz-Sprech-Monolog, ­verkörpert Kafkas Zartheit, Angst, Schwäche und Sprachwucht mit Körper und Stimme — und mit modernster digitaler Technik. Denn die Gedanken der Zuschauer werden in Echtzeit in den ­Bühnentext eingewoben, was zu verblüffenden Effekten führt. Auf drei Bildschirmen wird dazu der Eskapismus der Gegenwart gefeiert: unsere Internet-Bubbles.

 

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Vier Influencerinnen — mit dem Gesicht von Paula Scherf — säuseln auf den Bildschirmen von erfülltem Sinn in traditioneller Hausarbeit, Yoga-Praxis, achtsamen Pendel-Sitzungen. Schön ist auch die Version von Kafkas »Bau« als ­paramilitärischer Prepper-Youtuber: In Camouflage-Klamotten sitzt Paula Scherf auf dem Screen neben Kartoffeln und Waffenarsenal. Mit dem richtigen »Mindset« sind ­angeblich alle Ängste zu bekämpfen — zur Not mit Liegestützen. Es ist extrem spannend, wie die Internet-Texte und die intimen, ehrlichen Zuschauerantworten permanent mit Kafkas Sprache verschmelzen. In was für digitale Bunker haben wir uns heutzutage verstrickt? Immer wieder verschwindet die Performerin in einem Loch auf der Bühne, robbt wieder heraus, hin- und hergerissen zwischen Öffnung und Angst.

Extrem nah rückt der Text von 1923 an jeden Zuschauer heran, befragt uns permanent: Was gibt Schutz, wo wird Schutzbedürfnis krankhaft? Wo liegt der Grat zwischen Vertrauen, Vorsorge, Panik und Abschottung? Und so ist »Der Bau« vom Disdance Project ein großartiger, kurzweiliger Tanz- und Theaterabend, dessen Fragen nicht aktueller sein könnten. Dann ist er auch schon zu Ende, 40 Zuschauer strömen auf einen lila illuminierten kleinen Hof mitten im Stadtteil Ehrenfeld, angelockt von Glühwein- und Bratwurstduft und stehen noch lange zusammen.

Das Disdance Project gibt es als freies Ensemble in Köln schon lange — aber so richtig bekannt ist es nicht. Dabei haben sie mit ihrer Arbeit »Störfall« vor zwei Jahren den Kunstsalon-Theaterpreis gewonnen, sind mit »Der Bau« gerade für den Kölner Tanz- und Theaterpreis nominiert — und fliegen trotz ihrer digital-theatralischen Pionierarbeit ein wenig unter dem Radar. Im Jahr 1996 lernte sich das Künstlerpaar Paula Scherf und André Lehnert in Berlin kennen, sie aus dem Westen, er aus dem Osten. Gemeinsam gingen sie nach Köln, weil Paula hier einen Studienplatz an der Hochschule für Musik und Tanz erhielt, während André Schauspiel studierte und sich autodidaktisch als Programmierer ausbildete. Bereits in der DDR war er auf ein spezialisiertes Mathe-Gymnasium gegangen. Im Jahr 2003 gründeten sie in Köln das Disdance Project — ­zunächst ­pendelten sie zwischen verschiedenen Spiel- und Probeorten. Vor fünf Jahren mieteten sie im unwirtlichen Teil Ehrenfelds, in der Pettenkoferstraße, eine alte Fleischereihalle an und renovierten sie eigenhändig, monatelang, ohne viel Geld. Die gesamte Liebigstraße war einst in den Händen der Fleischindustrie. Daher kommt nun auch der Name der »Alten Wursterei«, nach jeder Vorstellung gibt es handgeschöpfte Bio-Bratwürste aus Ehrenfeld.

Extrem nah rückt ­Kafkas Text von 1923 an jeden Zuschauer heran, befragt uns ­permanent: Was gibt Schutz, wo wird ­Schutzbedürfnis ­krankhaft?

Strukturell gefördert wird das kleine Theater nicht, nur für Projekte erhalten sie Geld, sowie für ihre weitverzweigte soziokulturelle Arbeit. Denn neben avancierten digitalen Video- und Kunstprojekten arbeiten Disdance Project mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen aus der nahen Herkulesstraße und haben ein kleines Kindertheater-Imperium, oder besser ein »Peppaversum« erfunden um die Clownin »Peppalina Pappelotti«. Sie spielen damit in Kindergärten, Seniorenheimen oder Flüchtlingsunterkünften, aber auch bei sich. Sogar eine kleine Wohnung mit bunter Tapete, Küche und Sofa haben sie Peppa in die erste Etage der »Wursterei« gebaut, für Youtube-Filme. Da stellt Peppa Kochrezepte vor — etwa Tomaten-Mozzarella-Sticks zum Nachmachen. Paula Scherf spielt die charmante Clownin mit roter Nase und Riesenhosen stumm und staunend. Ihrer Peppa spürt man die ausgebildete Tänzerin an, wenn sie mit Wecker ungeduldig auf Weihnachten wartet, mit Schwimmflossen in den Urlaub kreiselt oder im Herbstlaub wirbelt — fünf Peppa-Abende gibt es bisher.

Bis zu 120 Kinder täglich be­suchen die Alte Wursterei in der Weihnachtszeit, rund 10.000 ­Kinder haben sie in fünf Jahren ­erreicht: »Im Dezember können wir uns kaum retten vor Anfragen«, erzählt André Lehnert. ­Besonders stolz ist er auf den ­niederschwelligen Zugang: Da Peppa stumm agiert, gibt es keine Sprachbarriere — zudem zahlt jede Familie am Ende nur so viel Eintritt, wie sie kann. »Viele haben sich dafür schon bei mir bedankt, weil sie anders nie ins Theater könnten«, erzählt er, am Ende stimme der Eintritt im Durchschnitt meistens doch. Mit Peppa planen sie sogar eine Kinderbuch-Reihe im eigenen Verlag. Auch ihre Produktion »Störfall« nach Christa Wolf soll wieder gezeigt werden, ein Text über Atomkraft — aktuell wie lange nicht mehr. Die Zuschauer-Beteiligung am Handy wird hier direkt auf der Bühne eingeblendet. Ihre nächste Premiere für Erwachsene soll ­»Erschlagt die Armen« nach dem umstrittenen Bestseller von ­Shumona Sinha sein, für Kinder ist eine Inszenierung des Kinderbuchs »Die Ecke« geplant.

Pläne gibt es extrem viele, Energie nicht weniger. Trotzdem bleibt es ein Existenzkampf: »Manchmal wissen wir auch nicht, wie es weitergeht«, sagt Lehnert. Da hilft nur eins: Auf zu einem ­Besuch mit Kunst und Bratwurst nach Ehrenfeld. Es lohnt sich.

Alte Wursterei Ehrenfeld

Pettenkoferstr. 4

»Peppa feiert Weihnachten«: 14.,15., 21., 22.12., 12 und 15 Uhr
»Der Bau«: 30., 31.1., 19:45 Uhr