In der Kaffeebud
»TRINKHALLE« prangt in großen Lettern über dem Schaufenster. Dazu finden sich allerlei Logos von Hörzu über Rössli-Zigarren bis Coca-Cola. Bier, Zigaretten, Zeitungen, Limonade, Süßigkeiten, Eis und Snacks — ob früh am Morgen oder zu später Stunde, man wird im Kiosk an der Eck’ fündig. Wer erinnert sich nicht an das kindliche Glücksgefühl, im Tausch gegen das mühsam angesparte Taschengeld eine »gemischte Tüte« in der Hand zu halten? Trinkhallen kamen während der Industrialisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf und sind bis heute omnipräsenter Bestandteil unseres Alltags.
Diesem Phänomen setzen die Fotografien der 1997 verstorbenen Tata Ronkholz ein Denkmal, bilden eine Art dokumentarische Bestandsaufnahme. Streng frontal, fast steril und in Schwarz-weiß bannte sie ab 1978 zahlreiche Trinkhallen an Rhein und Ruhr auf Fotopapier. Zu einer Zeit als diese akut in ihrem Fortbestand bedroht waren. Zwar sieht das moderne Büdchen ganz anders aus, aber verschwunden ist diese Form der Nahversorgung nicht — und immer wieder entdeckt man auch Büdchen alter Bauart.
Ronkholz’ Fotos wirken wie Zeitkapseln, die das Lebensgefühl der 1980er Jahre einfangen. Gardinen hängen hinter den Fenstern, Reklame für längst vergessene Produkte, eine Zeitreise in die Bundesrepublik. Wiederkehrend widmete sich Ronkholz den teils heruntergekommenen, aber immer liebenswürdigen Buden — vor allem in Düsseldorf und Köln —, aber auch Friseuren, Versicherungen oder Tapetengeschäften. Die Serie der Trinkhallen ist nur eine von mehreren Werkreihen, die ab 14. März in einer ersten umfassenden Retrospektive in den Räumlichkeiten der Photographischen Sammlung der SK Stiftung Kultur präsentiert werden.
1940 als Roswitha Tölle geboren studierte Ronkholz zunächst Architektur und Innenarchitektur an der Werkkunstschule in ihrer Heimatstadt Krefeld und absolvierte eine einjährige Ausbildung in einem Möbelhaus. Anschließend arbeitete sie als selbstständige Produktdesignerin. Als solche machte sie sich mit konstruktivistischen Möbeln einen Namen, zum Beispiel mit einer modularen Sitzlandschaft für die Firma »habit«. Ihre Entwürfe stellen einen wenig rezipierten Bereich in ihrem Œuvre dar, der in Form von Entwürfen für das Haus einer Fotografin oder patentierter Leuchten in der kommenden Schau vertreten sein wird. Kuratorin Claudia Schubert erzählt: »Es ist spannend, die Entwürfe im Zusammenhang mit ihrer fotografischen Auffassung zu betrachten. Oberflächenstrukturen und grafische Elemente haben ihren Blick geprägt.«
Über ihren ersten Ehemann Coco Ronkholz lernte sie schließlich Bernd Becher kennen, für den ihr Mann die Kataloge produzierte. Daraufhin begann sie, sich intensiv mit Fotografie auseinanderzusetzen und wechselte 1977 in die Becher-Klasse an der Kunstakademie in Düsseldorf. Doch bereits vor ihrer Studienzeit fertigte sie bisher nie ausgestellte Fotografien von Kirchen in der Toskana an, fokussierte sich zuweilen rein auf die geschichteten Steinmauern. Die Leiterin der Photographischen Sammlung Gabriele Conrath-Scholl erläutert: »Man kann mutmaßen, dass Bernd Becher diese Aufnahmen besonders interessiert haben. Sie veranschaulichen, dass Ronkholz sich Gedanken über Maß- und Raumverhältnisse, über Schriften und werbliche Zeichen gemacht hat.« In der Folgezeit gehörte sie mit Andreas Gursky, Candida Höfer, Axel Hütte, Thomas Ruff, Thomas Struth und Volker Döhne zu den Becher-Studierenden erster Stunde. Bekannt für ihre skulptural inszenierten Industriedenkmäler sollte der neusachliche Stil der Bechers eine eigene — und sehr erfolgreiche — Schule begründen.
Neben dem größten Konvolut der Aufnahmen von Trinkhallen finden sich noch andere serielle Arbeiten in Ronkholz’ Nachlass, der seit 2011 von der VAN HAM Art Estate verwaltet wird: Gemeinsam mit Thomas Struth fotografierte sie zu Studienzeiten den Düsseldorfer Rheinhafen. Auf Anfrage erhielten sie die städtische Genehmigung, den Hafen vor dem drohenden Abriss und folgender Neugestaltung fotografisch festzuhalten. Es entstanden menschenleere Abzüge, in denen sich die stille Poesie verlassener Industriearchitektur im kontrastreichen Schwarz und Weiß ein letztes Mal aufbäumt. Die dokumentarischen Aufnahmen kamen bei der Stadt so gut an, dass 1981 das Düsseldorfer Stadtmuseum mehr als 80 Arbeiten ankaufte. Von Struth werden in der Ausstellung ebenfalls 20 Arbeiten dieser vergessenen Serie zu sehen sein.
Die formale Strenge von Ronkholz lässt sich aber am besten in ihrer frühen Werkserie von Fabriktoren ausmachen. Unter grau verhangenen Himmel fächert sich eine reiche Variation von Tortypen auf. Im Winter aufgenommen wird das Sujet von keiner spielerisch anmutenden Vegetation in seiner Strenge gebrochen. Jedes der Tore wurde dabei mit Firmenname und Datum in einem Archivbuch von der Künstlerin penibel dokumentiert.
Ihr gleichermaßen strenger wie sanfter Blick trifft auf teils desolate Architektur. Ihre Fotografien changieren zwischen Nähe und Distanz, zeigen die Architektur auf Augenhöhe
Einige Vertreter*innen der Becher-Schule sollten später Weltruhm erlangen. Im Gegensatz zu ihren erfolgreichen Mitstudierenden gab Ronkholz die Fotografie auf, arbeitete bis 1995 in einer Fotoagentur und starb 1997 in Köln. Angesichts der horrenden Preise der Kunstsuperstars der Becher-Schule, richtet sich der Blick allmählich auf ihre weniger bekannten Kommiliton*innen. Warum aber hat es bei Ronkholz so lange gedauert? Stärker noch als die anderen Becher-Schüler*innen orientierte sie sich direkt am Stil des Meister-Ehepaars. Die Nüchternheit der Aufnahmen; das serielle Vorgehen; die Verwendung einer starren Großbildkamera folgen streng der Ästhetik der Bechers. Ronkholz übernahm den kühlen Blick, der gleichsam die eigentümliche Schönheit der im Verfall begriffenen Dinge offenlegt. Conrath-Scholl: »Sie hat methodisch wichtige Momente aufgegriffen, wie das neutral genutzte Licht, das 30*40 Format und die frontale Sicht. Die Objekte präsentieren sich selbst und die Fotografin tritt hinter ihnen zurück.«
Tata Ronkholz nahm den industriellen Städtebau der Nachkriegszeit in den Fokus, lichtete ihn systematisch ab und gruppierte ihn zu einem visuellen Archiv. Ihr gleichermaßen strenger wie sanfter fotografischer Blick trifft auf teils desolate Architektur. Ihre Fotografien changieren zwischen Nähe und Distanz, zeigen die isolierte Architektur auf Augenhöhe. Im Gegensatz zu den bekannteren Namen der Becher-Schule entwickelte Ronkholz durchgehend im kleinen (marktuntauglicheren) Format. Doch die Schau zeigt, dass die Würdigung Tata Ronkholz’ keinen Tag zu früh kommt.
»Tata Ronkholz: Gestaltete Welt. Eine Retrospektive«
Die Photographische Sammlung/ SK Stiftung Kultur, Mediapark 7
14. März bis 13. Juli 2025, 14–19 Uhr
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