Spiralen, Zonen, Strudel
Sebastian Gramss hat sich was Neues einfallen lassen. Musikalische Helix-Strukturen. Die sind in der Tat aufregend und nahezu unbekannt. Sie haben das Zeug, in der Neuen Musik und im Jazz für frischen Schwung zu sorgen.
Sebastian haben wir in der Stadtrevue vor anderthalb Jahren porträtiert: Der 1966 geborene Bassist, Komponist und Bandleader ist einer der großen Innovatoren der Kölner Jazz-Szene. Immer wieder lanciert er spektakuläre Projekte, etwa das ausschließlich aus Kontrabässen bestehende Orchester Bassmasse. Als wir uns im September 2023 trafen, war ein biographisches Interview verabredet, aber es blitzte schon durch, dass er da was am Wickel hat, was mindestens seine eigene Musik auf den Kopf stellen wird. Es sind die besagten Helix-Strukturen. Die Idee dahinter ist einfach — und kompliziert zugleich.
Wir besuchen Gramms in seinem Studio in der Vogteistraße, das er mit Musiker-Freunden zu einem kreativen Tempel des permanenten Austausches umrüstet. Er sprüht vor Energie. Ein Festival hat er auch in Planung. Seine Entdeckung muss in die Welt.
Das ist die Vorgeschichte: Der französische Komponist und Klangforscher Jean-Claude Risset (1938–2016) stieß Ende der 1960er Jahre auf eine auditive Täuschung. Sie ist seitdem nach ihm benannt: Es sind die Risset-Rhythmen. Auditive Täuschungen kennen wir, den Doppler-Effekt oder der ewig ansteigende Ton (die Shepard-Skala). Risset experimentierte mit einer rhythmischen Struktur, die immer langsamer wird oder schneller — und zwar endlos. Das stimmt natürlich nicht, aber wir hören es so. Allein, Risset hat in der Folgezeit mit seiner Entdeckung so gut wie nichts angefangen. Erst recht nicht gab es Umsetzungen für Naturinstrumente. Erst Gramss hat — mutmaßlich als erster weltweit — den »Risset-Rhythmus« produktiv gemacht, Stücke geschrieben, ihn systematisch für die unterschiedlichsten Ensembles angewendet.
Gramss grinst schelmisch, ihr habt ein bisschen Zeit mitgebracht? Und dann legt er los. Zusammenfassend kann man sagen, dass es sich um die Synchronisation verblasster resp. verblassender rhythmischer Ströme handelt, die in unterschiedlichen Geschwindigkeiten gespielt werden. Dadurch kommt es zu einer Überlagerung dieser Geschwindigkeiten, die wir Zuhörer nicht als Bruch, als Neuansetzen wahrnehmen, sondern die den Eindruck, es werde immer langsamer oder schneller, verstärkt. Instrument A wird langsamer, zu einem bestimmten Zeitpunkt und nach einer vorgegebenen Anzahl von Takten, mischt sich Instrument B hinzu und spielt in dem Tempo, das A zu Beginn gespielt hat. Dann wird auch B langsamer, bis sich Instrument C einmischt, und das Ursprungstempo von A und B aufnimmt. Kommt A von der Spielgeschwindigkeit her ans Ende, setzt es wieder von vorne ein. Das ist die Helix, ein ewiger Prozess verschlungener, sich verschlingender (Rhythmus-)Stränge.
Gramss hat — mutmaßlich als erster überhaupt — den ›Risset-Rhythmus‹ produktiv gemacht
Die Helix wird nicht »gefühlt« gespielt, sie ist »ausformuliert«, Tempo und Taktzahlen sind vorgegeben. Dennoch erleben wir den Übergang, den Moment, in dem sich ein weiteres Instrument hineinmischt, als eine Zone, als etwas Diffuses. Beides kommt zusammen: die Klarheit des Prozesses und dennoch der Eindruck, dass er ortlos ist, frei schwebend, ein Anfang und Ende scheint nicht lokalisierbar zu sein.
Daher greifen, um die Stücke zu charakterisieren, die Gramss mit der Helix-Struktur komponiert, herkömmliche Schlagwörter nicht: Diese Stücke sind nicht polyrhythmisch, es sind auch nicht bloß Tempowechsel, die kombiniert werden. Die Helix scheint vielmehr in sich instabil und ist dennoch die absolut tragfähige Struktur eines jeweiligen Stückes. Sie steht quer zu anderen Konzepten — und lässt sich daher mit ihnen kombinieren. Tatsächlich gibt es schier unendlich viele Varianten, wie (nämlich: auf- oder absteigend, oder gegenläufig) und in welchen Zeitmaßen sich eine Helix komponieren und spielen lässt.
Natürlich wollen wir das live hören, und an zwei Juni-Tagen im Loft wird Gramss mit seinen Ensembles und mit Solisten die Tür zu seiner Werkstatt weit aufstoßen. Beim Zuhören wird einem ein wenig schwindelig. Aber man darf sich ja hinsetzen.
Helix-Festival, 5. und 6.6, Loft, jeweils 20 Uhr.
Es gibt Solo-, Duo- und Gruppenkonzerte. 7.6., Loft, 11-14 Uhr: Kolloquium und Workshop für Musiker:innen und alle anderen Interessierten. Helix-Videos auf Gramss’ Youtube-Kanal: »HELIX Basic Konzept« und »Meteros: We Spin Dizzly«.