»ich war eigentlich ein 58er …«

Der Kölner Aktivist und Revolutionär Kurt Holl konnte auf ein widersprüchliches, glückliches, wüstes Leben zwischen NS-Erbe, Adenauer-Mief, Revolte und kölschen Klüngel zurückblicken. Vor drei Jahren ist er gestorben, jetzt erscheint seine Autobiographie, ein Dokument der Zeitgeschichte. Wir drucken exklusiv Auszüge.

Vor ein paar Jahren schon geisterte es durch die linke Szene Kölns: Kurt Holl schreibt seine Memoiren. Wenn es jemanden von den alten Linken gab, dem man zutraute, keine Anekdoten und eitle Selbstbespiegelung zu veröffentlichen, dann ihm. Aber Holls Memoiren sind Fragment geblieben, Holl starb 78-jährig am 10. Dezember 2015. Seine Söhne Benjamin Küsters und Hannes Loh sichteten den Nachlass und begannen, die Notizen, Erzählungen und Einzelseiten zu ordnen und zu setzen. Sein Vater, erzählt Hannes Loh im Gespräch, habe eine komplexe Komposition vorgeschwebt: Seine Erinnerungen sollten eingewoben werden in zeitgenössische Dokumente und zahlreiche Fotos. Das Vorhaben ließ sich ohne Kurt Holl nicht mehr realisieren. Seine Vignetten werden nun als geschlossener Text veröffentlicht — und sie gewinnen dadurch, denn das Lebensbild Holls tritt stärker hervor. Eingerahmt wird es durch ein Interview, das die beiden Söhne mit der Lektorin Petra Steuber geführt haben und das dem Charakterbild ihres Vaters noch einige Facetten hinzufügt. Es ist eine Kölner Biographie, sagt Benjamin Küsters, aber sie ist nicht auf Köln bezogen. Man kann diese Texte als Geschichtsbuch lesen, nicht nur als Aussagen eines Einzelnen.

 

Holl konnte auf fast 60 Jahre Aktivismus zurückblicken. Für ihn war »1958«, das Jahr der Solidarität mit der algerischen Unabhängigkeitsbewegung, genauso wichtig wie »1968«. Er bezahlte das mit Berufsverbot — 1976 musste der Lehrer das Hansa-Gymnasium verlassen —, aber auch mit politischen Brüchen: In den 70er Jahren war Holl Sympathisant der maoistischen KPD und engagierte sich in deren »Liga gegen den Imperialismus«. Dabei war er doch eigentlich Parteigänger eines antiautoritären, libertären Sozialismus. Sein antifaschistisches Engagement gegen die rassistische Diskriminierung von Roma-Familien führte ihn dann doch noch mitten in die Kölner Stadtgesellschaft. Er freundete sich mit -Hedwig Neven DuMont an, die ihn darin unterstützte. Holl habe sich nicht angepasst, meint Küsters, sondern die Bündnisse gesucht, die in der jeweiligen Situation für die Sache der Marginalisierten realpolitisch am aussichtsreichsten waren. 2011 erhielt er zusammen mit Hedwig Neven DuMont die Alternative Kölner Ehrenbürgerschaft. Aber auch diese späte Anerkennung hat ihn nie vor Akten des zivilen Ungehorsams abgehalten.

 

Was man aus den Memoiren lernen kann? Ein anderes Geschichtsbild, das man so nicht erzählt bekommt, meint Küsters. Loh liest die Erinnerungen seines Vaters als Schatzkästlein des Widerstands: Ziviler Ungehorsam, Gesetzesbrüche, Versammlungen sprengen, sich ungefragt Selbstermächtigen — das zahlt sich aus. Und es macht Spaß.

 

Die Suche nach den Vätern

Sehnsucht und Enttäuschung

 

Mein Vater blieb während meiner ganzen Kindheit mein großes Vorbild, dessen Liebe wir, meine Mutter und ich, auch nach seinem »Heldentod« (im Zweiten Welktrieg), uns immer sicher waren. Eben einer jener »ganz normalen deutschen Männer« (C. R. Browning). Auch nachdem ich jetzt weiß, dass er an den ungeheuerlichsten Verbrechen beteiligt gewesen sein muss, bleibt mein Kinderbild von ihm bestehen. Es war, als hätte ich es mit zwei völlig verschiedenen Menschen zu tun. Ich träumte vom Vater, doch er kam nach dem Krieg nicht wieder. Aber die Väter der Väter waren da. Zu denen schaute ich auf.

 

Das Hotel meiner Eltern war zerbombt. Meine Mutter hatte kein Einkommen mehr und wir alle waren vom »Dehler-Opa« abhängig, ihrem Vater, dem eine Brauerei und ein großer Gutshof gehörten. Dieser Opa war ein stolzer, oft einschüchternder, aber beschützender Patriarch. Er war der jüngste Spross einer Brauerdynastie, die seit 1506 die Nördlinger »Dehlerbräu« bewirtschaftete.

 

Mein Großvater väterlicherseits hatte ebenfalls ein beeindruckendes Leben vorzuweisen. Er war Tiefbau-Ingenieur, der vor dem Ersten Weltkrieg Tunnel für die Bagdad-Bahn durch das Taurusgebirge sprengte und der danach den Bau der Bernina-Bahn in der Schweiz betreute. Er kaufte von seiner Abfindung das Hotel »Deutsches Haus« in Nördlingen, damals ein angesagtes Haus in Süddeutschland und war bald stolzer Gastgeber von Hoheiten und Berühmtheiten. Alfried Krupp von Bohlen und Halbach checkte ein, ebenso die Chefs von Blohm & Voss, der amerikanische Zeitungszar Hearst (das Vorbild für den Film »Citizen Kane«), der französische Botschafter André François-Poncet, diverse Königinnen und Prinzen, Johannes Heesters sowie die Generäle von Mackensen, Fritsch und Kesselring. In einer Kleinstadt wie Nördlingen waren solche »Sippenchefs« wie unsere Großväter eine Verpflichtung für die Nachkommen. Sie haben, als ich jung war, nicht wenig zu meinem Selbstbewusstsein beigetragen.

 

Als ich später vom Verhalten meiner Großväter im Faschismus erfuhr, verdrängte die Scham den Stolz auf diese Herkunft. Der Opa Holl plante noch 1944 mit der NS-Gauleitung den Wiederaufbau des zerbombten Hotels. Es sollte das größte NS-Parteihotel Nordschwabens werden. Seine Frau, meine Großmutter, eine Schweizer Staatsbürgerin, die Opa Holl vom Bau der Bernina-Bahn mitbrachte, wo sie die Post für die ausländischen Arbeiter betreut hatte, war glühende Hitlerverehrerin. Mein Vater lud seine SS-Kumpels vor dem Krieg regelmäßig zu Zech-gelagen ins Hotel ein. Sein Schwager hatte ihm kurz nach der »Machtergreifung« nach Casablanca geschrieben, wo er damals lebte: »Mit einem kräftigen Heil Hitler begrüße ich Dich in deinem schwarzen Afrika. Ich sage Dir, es ist herzerquickend, wie jetzt von der Regierung Hitler durchgegriffen wird.«

 

Mein Opa mütterlicherseits, der Brauereibesitzer, fand die Diskriminierung seiner jüdischen Geschäftspartner, der »Hopfenjuden«, zwar weniger gut, begründete dies aber mit antisemitischer Spitzfindigkeit: Schlimmer als seine jüdischen Freunde wären doch die »Christenjuden«, also Christen, die sich wie Juden benähmen.

 

Kofferträger für die »Terroristen«

Pour la paix en Algérie — vive FLN! 

 

Unser Deutschlehrer am Gymnasium Kreuzgasse in Köln, Herr Grewe, traktierte uns mitten in den 1950ern zwar oft mit den Texten frommer katholischer Literaten wie Gertrud von le Fort. Aber manchmal schreckte er uns auch auf. Zum Beispiel 1956. Da gab er uns als Thema eines Besinnungsaufsatzes: »Frankfurter Studenten demonstrierten vor kurzem mit einem Transparent, auf dem stand: Woran sollen wir noch glauben? Sie reagierten damit auf den Einmarsch Russlands in Ungarn und die gleichzeitige Bombardierung Ägyptens durch Frankreich, England und Israel. Nehmen Sie dazu Stellung!«

 

Das konnte ich. Denn schon seit einiger Zeit hatte ich mich nicht mehr wohl gefühlt in meiner Kinderwelt. Ausgerechnet in der Internatsschule der Herrnhuter berichtete unser Französischlehrer mit großer Sympathie über die letzte (und verlorene) Schlacht der Franzosen gegen die Vietminh. Mich irritierte besonders, dass dort deutsche Fremdenlegionäre angeblich die Stoßtruppen gegen »die Kommunisten« gewesen sein sollen. Und dann Algerien. Dort kämpften seit 1954 ebenfalls deutsche Söldner gegen die algerische Befreiungsfront (FLN). In dieser Zeit, so um 1956, elektrisierte mich der Aufruf von Jean Paul Sartre an seine Landsleute: »Die Nazi-Folterer hatten französische Widerstandskämpfer zu Tode gequält, jetzt würden Franzosen in Algier für die Freiheit des Westens foltern.«

 

All das strömte auf mich ein und ich stellte fest: Wir waren schon wieder mittendrin. In einem Krieg mit Nazimethoden — all das sollte doch nie mehr passieren. Ich nahm Kontakt zur »Front de Liberation Nationale (FLN)« auf, die in der tunesischen Botschaft in Bad Godesberg ihre (illegale) Vertretung hatte. Ich fuhr dort hin und wurde als unbedeutender Schüler sogar vom Repräsentanten der FLN empfangen. Ich fragte mutig, ob ich etwas für sie tun könnte. Sie baten mich, unter Schülern und Studenten über den Aufstand der Algerier zu informieren und gaben mir einen Karton voller Material über die FLN und über Gräueltaten der französischen Armee mit. Weil viele der Broschüren und Flugblätter in Französisch waren, nahm ich sie mit auf unsere Abi-Fahrt nach Paris, verstaut in meinem Koffer.

 

Ich kam ungeschoren durch die Grenzkontrollen. Ziemlich nervös natürlich. Denn schließlich galten die FLN-Leute als Terroristen. Während unseres Besichtigungsprogramms gelang es mir immer wieder, in Museen, Kirchen und der Métro das Material auszulegen. In die Fürbittbücher in den Kirchen schrieb ich in großen Lettern: »Pour la paix en Algérie — vive FLN!«.

 

Zurück in Köln gründete ich mit einem Klassenkameraden die »Aktionsgemeinschaft Algerien«. Noch vor dem Abi schrieb ich an den Bundespräsidenten Heuss, in der naiven Hoffnung, er könnte öffentlich gegen den Kolonialkrieg Stellung beziehen. Immerhin ließ er antworten, ausführlich und verständnisvoll. 

 

Auf der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, wo ich nach dem Abitur Ende der 1950ziger Jahre Theologie studierte, brachte ich im Foyer Wandzeitungen aus den Broschüren der FLN an. Prompt kamen Anfragen des Verfassungsschutzes. Auf einer studentischen Vollversammlung der benachbarten PH Wuppertal erreichte ich, dass 1500 DM für algerische Studenten, d.h. für die FLN, gespendet wurden. Schließlich kontaktierte ich den damaligen Vorsitzenden der SPD-Fraktion im Landtag NRW, Johannes Rau. Auch er antwortete und empfahl mir erst einmal Briefkontakte zu französischen Studenten aufzunehmen. Sein Parteifreund Wischnewski war da entschlossener; er forderte die deutschen Fremdenlegionäre auf zu desertieren. Ich habe später erfahren, dass in Köln auch noch andere aktiv waren und Geld und Technik für die FLN nach Frankreich schmuggelten — sie sind als die »Kofferträger« legendär geworden. Mein Freund, der Werkzeugmacher Hans Pfeiffer, schloss sich damals der FLN an und fertigte in einem Sahara-Camp Waffen für die algerischen Kämpfer. Das war also die Zeit, in der ich als Student lernte, worauf es in meinem Leben ankommen würde: den christlich-abendländischen Kriegsverbrechern in den Arm zu fallen. So war ich also eigentlich ein 58er, gut eingestimmt auf die Zeit, die noch kommen würde.

 

Einbruch in den Naziknast

Wie die Zerstörung der Gestapo-Keller verhindert und das NS-Dokumentationszentrum durchgesetzt wurde

 

In der Nacht vom 6. auf den 7. März 1979 verschafften wir, der Fotograf des Kölner Volksblatts Gernot Huber und ich, uns Zugang zum Keller des so genannten EL-DE-Hauses, das bis 1945 die Kölner Gestapo-Zentrale beherbergte.

 

Wir hatten kurz vorher entdeckt, dass Handwerker dabei waren, die vollständig erhaltenen Gefängniszellen im Keller dieses Hauses im Auftrag der Stadt zu »renovieren«, was faktisch die Zerstörung dieses historischen Ortes und der Erinnerung an die Leiden und Schrecken der inhaftierten NS-Gegner bedeutete. Hunderte von Inschriften an den Wänden zeugten von den Ängsten und Hoffnungen der Inhaftierten, die in diesem Keller gefoltert worden waren oder auf ihre Hinrichtung im Hof gewartet hatten. Neben vielen Zwangsarbeitern und Kölner Antifaschisten, in der Mehrzahl Kommunisten, hatten dort auch jugendliche Edelweißpiraten gesessen. Von der Existenz dieser Graffiti hatten überlebende Widerstandskämpfer  der VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes) berichtet.

 

Wir standen nach unserem Einbruch nun also in den Gängen des Folterkellers vor den mit schweren Eisenriegeln verschlossenen Zellen. Durch Gucklöcher konnte man einzelne Graffiti erkennen. Zwei der Zellen waren bereits »renoviert« worden, Wände waren herausgebrochen und die Inschriften überstrichen worden.

 

Wir hatten einen Tag zuvor ausbaldowert, welche Werkzeuge nötig waren, um in die Zellen zu gelangen. Daher konnten wir die schweren Eisenriegel ziemlich schnell knacken. Alle Wände waren mit Regalen zugestellt, in denen aussortierte Aktenbestände der Stadt lagerten. Glücklicherweise bewahrte gerade diese Papiermasse die Inschriften dahinter vor der Vernichtung durch Wandnässe; das Papier hatte alle Feuchtigkeit aufgesogen.

 

Wir machten uns an die Arbeit, aktenstemmend und hustend. Meter für Meter wurden Akten weggeräumt und Gernot Huber suchte den besten Aufnahmewinkel, um dahinter die fast verblichenen Schriftzüge kontrastreich auszuleuchten. Nach einer 12 Stunden-Schicht, kurz bevor die ersten Arbeiter kamen, schlüpften wir nach draußen, unbemerkt und mit über 1.200 Fotos im Kasten. Die Aktion war nicht ganz ungefährlich, denn das EL-DE-Haus beherbergte einige städtische Ämter, wie z.B. das Ordnungsamt, mit dem ganzen Inventar an Blanko-Ausweisen, Stadtsiegeln und Stempeln. Es war also — in einer Zeit, als die Fahndung nach Terroristen immer neuen Höhepunkten zutrieb — eine etwas heikle Mission gewesen. Unsere Fotos von den Zellen und Inschriften, aber auch über die bereits begonnenen Zerstörungen, schlugen bei den Medien und bei den Stadtoberen wie eine Bombe ein. Die Stadtkonservatorin veranlasste einen sofortigen Baustopp.

 

Als auch bis Mitte der 1980er Jahre die Stadt immer noch keine Anstalten machte, unserer Forderung nachzukommen ein Dokumentationszentrum im EL-DE-Haus einzurichten, besetzte unsere Truppe zweimal die Amtsräume von Dr. Simon, dem Chef des Ordnungsamtes im EL-DE-Haus und hängte Transparente aus den Fenstern seines Büros und vom Balkon; über das zweite Mal berichtete die Kölnische Rundschau am 19. September 1987 unter der Überschrift »Das Rechtsamt wurde gestürmt«.

 

Besonders peinlich für die Stadt war, dass sogar der international bekannte Ordinarius für Staatsrecht, Professor Ulrich Klug, dabei mitmachte — das verschlug Dr. Simon und den anderen die Sprache. Simon traute sich nicht sein besetztes Büro von der Polizei räumen zu lassen. Kurz vorher hatte die Initiative auch eine große Ausstellung im Forum der Volkshochschule eröffnet über das Schicksal der Zwangsarbeiter in Kölner Betrieben und im EL-DE-Haus. Wir hatten im Stadtarchiv die vollständige Liste der Zwangsarbeiter entdeckt, die 1944 bei der Klöckner-Humboldt-Deutz AG (KHD) für die Rüstung der Nazis arbeiten mussten. Wir schmuggelten diese Akten unter unseren Pullovern nach draußen und zeigten sie in Kopien in unserer Ausstellung. Zur Eröffnung und zu einer Pressekonferenz wurden die Präsidenten der Vereinigungen ehemaliger Zwangsarbeiter aus Frankreich, Belgien, Russland und Polen eingeladen. Höhepunkt der Kampagne war schließlich eine große Veranstaltung mit Ministerpräsident Heinz Kühn und den Repräsentanten der ausländischen Zwangsarbeiter mit über 800 Besuchern.

 

»Kurt Holl. Autobio-grafisches Portrait eines 68ers«,
256 Seiten inkl. 39 Illustrationen, 22 Euro,
editionfredebold, Köln 2018