Der König, die große Uhr und ganz viele Weingummitüten

Provinziell, langweilig und kaum gute Redner – es scheint, dass es keine Gründe gibt, die Sitzungen des Kölner Rates zu besuchen. Oder etwa doch? Was passiert, wenn man das Tun und Treiben im Kölner Rat einmal als große Theaterinszenierung betrachtet? Denn eigentlich ist alles vorhanden, was auch bei Shakespeare, Brecht oder Beckett zu finden ist:

Streit und ­Intrigen, belehrende Mono­loge und jede Menge Absurdes. Wir haben den Theaterkritiker und Dramaturgen Klaus Fehling in die ­erste Sitzung nach der Sommer­pause am 28. August geschickt und um eine Rezension gebeten. Der Journalist und Kommunal­politik-Fachmann Frank Überall hat die ­Sitzung ebenfalls verfolgt – und kommentiert Fehlings Blick auf das Geschehen. Der Schauspieler Thomas Krutmann hat für uns als Politiker posiert, Manfred Wegener hat ihn dabei fotografiert.

Theater ist wie gemeinsames Kochen. Jeder steuert seine Zutaten bei, aber keiner hat alleine in der Hand, wie der Brei am Ende schmeckt. Das Ensemble »Rat der Stadt Köln« bestätigt mit »Die 43. Sitzung« eine bekannte Küchenweisheit.

Gleich zu Beginn des Stücks befreit sich das dramatische Personal von der vorgegebenen Dramaturgie: Es beschließt noch während der Exposition, die Reihenfolge der Szenen zu ändern. Auch Streichun­gen werden gewagt. Doch es handelt sich in dieser »Abstimmung über die Tagesordnung« mitnichten um eine Revolution gegen Autor und Regie. Bald offenbart sich, dass nach festen Regeln gespielt wird. Bereits der erste Monolog wird mit einer ritualisierten Formel eingeleitet, die sich leitmotivisch durch das gesamte Stück ziehen wird: »Meine sehr verehrten Damen und Herren, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister«. Den Zuschauer freut es. Bei der unüberschaubaren Anzahl der Figuren ist er für jeden Hinweis auf deren Namen und Funktion dankbar. Der, der den sprechenden Namen »Herr Oberbürgermeister« trägt (routiniert gespielt von Fritz Schramma), sitzt auf einem Thron und ist offensichtlich der König. Wer sonst welche Rolle spielt, bleibt über weite Strecken unklar. Klar ist aber, dass die Funktion der einzelnen Figuren mehr in Symbolen, wie zum Beispiel unterschiedlich farbige Krawatten, und der Position auf der Spielfläche als in ihrem gesprochenen Text codiert ist.

Die Abstimmung über die Tagesordnung ist ein lieb gewordenes Ritual unter Kölner Ratspolitikern. Der Stadtrat ist nach der Gemeindeordnung der Souve­rän, also das wichtigste Gremium überhaupt. Für die politische Feinmechanik ist die Verwaltung zuständig, für die Grobmotorik der Rat. Aber wenn die Politiker etwas aus der Abteilung Feinmechanik zur Entscheidung an sich ziehen wollen, haben sie das Recht dazu. Natürlich nicht jeder einzelne Volksvertreter, sondern nur eine Mehrheit derselben. Und es geht nicht nur darum, Themen auf die Tagesordnung zu heben – manchmal ist es sogar viel wichtiger, bestimmte Fragen nicht diskutieren zu wollen. So wird vor den Ratssitzungen meist hektisch darüber verhandelt, wer wen bei welchen Initiativen unterstützt. Vielleicht kommen auch deshalb die meisten Ratsmitglieder gerne zu spät zu ihrer wichtigsten Gremien­sitzung. Die Weichen sind ja ohnehin schon gestellt, auch weil die Ausschüsse und Fraktionen alles schon vorher stundenlang ausdiskutiert und vorentschieden haben. Der Rat wird zur politischen Inszenierung. Mit Schaufensterreden und Vollzug des vorgefertigten Mehrheitswillens.


Zuschauerapplaus unerwünscht

Die Szene dieser Inszenierung wird dominiert von einer Anordnung einfacher Holztische, auf denen hohe Papierstapel, Wasserflaschen und immer wieder Weingummitüten drapiert sind. Die außerdem vorherrschenden Elemente des Bühnenbilds sind hoch über den Köpfen der Akteure ein großer metallener Vogel und eine Uhr, die im weiteren Verlauf des Stücks an Bedeutung gewinnen wird. Ansonsten ist die Bühne funktional und schlicht ausgestattet. Auf Drehbühne und Regen­maschine wurde (Gott sei Dank!) verzichtet. Die Spielfläche ist in zwei Höhenebenen unterteilt, die den Statusunterschied der dort platzierten Figuren unterstreicht: Ganz oben sitzt der König und über ihm sitzen höchstens noch die Zuschauer – auf einer Galerie, die so klein, steil und eng ist, dass der Zaunpfahl, mit dem hier systemkritisch gewunken wird, nicht zu übersehen ist. Ebenso wenig einfallsreich ist die illustrative Musik, die ausschließlich aus Handy-Klingeltönen und Windows-Startmelodien besteht. Dieser mangelhafte musikalische Hintergrund macht es den einzelnen Akteuren schwer, ihre eigene Melodie zu finden. Auch wenn die Figuren auf dem Proszenium immer wieder erscheinen wie Sänger bei einem Wettstreit – es bleibt ihnen bloß das gesprochene Wort, welches sie mal mehr und mal weniger beherrschen.

Die Zuschauer auf der Ratstribüne sind zum Stillsein verdammt. Selbst ein spontaner Applaus kann dazu führen, dass man aus dem Saal verwiesen wird. Die Einlasskarten für die Ratssitzungen gibt es kostenlos bei der Stadtverwaltung, und wenn interessante Themen diskutiert werden, sind sie heiß umkämpft. Das ändert freilich nichts daran, dass die überwiegende Zeit vor leeren Rängen debattiert wird. Um 15.30 Uhr ist noch alles voll, spätestens um 22 Uhr herrscht auf der Galerie gähnende Leere. Schulklassen, die von Pädagogen ins Kommunalparlament entführt werden, gehen recht schnell wieder. Selbst interessierte Bürger konzen­trieren sich in der Regel nur auf einzelne inhaltliche Fragen. Das ist auch der Grund, warum in Sitzung 43 die wichtigsten beiden Diskussionsthemen »vorgezogen« werden: Über den Bau einer Moschee und eines jüdischen Museums wollen die Politiker vor Publikum sprechen, geht es doch um die Bedienung des jeweiligen Klientels. Der Kommunalwahlkampf steht vor der Tür, in diesen Tagen wird in den Parteien darüber entschieden, wer wieder als Kandidat für den Rat aufgestellt wird. Die Folge ist vermehrter Drang zur Selbstdarstellung: Mal mehr, mal weniger gekonnt.

Botenberichte geheimnisvoller Kommissionen

Bei der Textsicherheit zeigt sich ein deutliches Gefälle unter den Schauspielern. Wo die einen ihren Text fast betonungslos vom Blatt ablesen, rettet sich manch anderer in schwungvoll vorgetragene Zitate. Der (leider zu stereotyp besetzte) Anführer einer kleinen, am rechten Bühnenrand versammelten Außenseitergruppe deklamiert in seiner Soloszene »Reduzierung der Gaspreise« gleich ganze Strecken aus einem anderen Stück (»Die Aufsichtsräte«), in dem er – wie er später erkennen lässt – viel lieber mitspielen würde. Meist handelt es sich beim Text um Boten­berichte oder Briefe einer geheimnisvollen Expertenkommis­sion. Aber was auf den ersten Blick wie Kafka klingt, entpuppt sich bald als Plagiat.

Einzelne Lichtblicke gibt es durch die geschickt gesetzten Auftritte einer weiblichen Joker-Figur (überzeugend gespielt von Petra May), die das Publikum und die anderen Akteure mal mit Stand-up-Comedy und mal mit Slam-Poetry zu unterhalten versteht. Man merkt deutlich, dass der Autor sich bei den Frauenrollen wesentlich mehr Mühe mit dem Text gegeben hat als bei den im Vergleich fast blutleeren Männerfiguren. Das zeigt sich auch in den Monologen einer witzig-eloquenten Figur, deren Vortragsstil an Trude Herr erinnern soll (brillant gespielt von Barbara Moritz).

Die komödiantisch anmutende Rezeption der Ratsreden ist kein Wunder. Die mehr oder weniger ausgefeilten Texte werden nur noch vorgetragen, wobei schon dieses Wort eine Übertreibung ist: Vortrag kann man das Ab­lesen kaum nennen. Ohne Spontaneität und Esprit werden Versatz­stücke aus dem Anfängerbaukasten politischer Rhetorik zusammen­geschustert. Eine Debattenkultur, wie sie früher im Stadtrat herrschte, bei der das Zu­hören politisch Interessierten Vergnügen bereitete, gibt es nicht mehr. Ergo ist auch das Debattenfeature in den Medien, also die journalistische Schilderung eines sachlich ausgetragenen Streits, nahezu ausgestorben. Der wichtigste Ort während mancher Ratsrede ist für die Teilnehmer der Sitzung die alternative Sitzgelegenheit im »Consilium«, der Gas­tro­nomie des Rathauses, in dem Schnittchen und Kölsch dankbare Abnehmer unter den Volksvertretern finden. Die rhetorische Arbeit im Saal machen andere, und wenn es bei einer Abstimmung wichtig wird, rufen fleißige Fraktions­geister die Stimmträger zum Handheben in die Politik­arena.

Sakralbau für Zugereiste aus dem Morgenland

Dialogisch wird das Stück erst im zweiten Drittel, wenn die starre Form des »Einer sagt was, und alle hören zu« beziehungsweise »Einer sagt was, und viele gehen raus« abgelöst wird durch »Einer sagt was, und die anderen rufen was rein«. Erst jetzt wird auch eines der großen Themen des Stücks erkennbar. Es geht offenbar um einen Sakralbau, dessen Errichtung der König in seinem Reich den Zugereisten aus dem Morgenland erlauben will. Es entwickelt sich zäh der eigentliche dramatische Konflikt: Es gibt die, die dafür sind, und die, die dagegen sind, wobei dies immer wieder wechseln kann. Die zu Beginn noch krypti­schen Symbole geben im Laufe des Stücks mehr und mehr Aufschluss über das Dafür- oder Dagegen-Sein der jeweiligen Figuren. Nun versteht man auch die Bedeutung der choreografierten Gesten. Das Heben des rechten Arms bedeutet etwa, dass man für oder gegen etwas eine Meinung hat (»Abstimmung«) – für die meisten zumindest. Ebenfalls der Meinungsbekundung dienen rhythmische Elemente wie Trommeln, Klatschen oder hysterisches Gruppengelächter. Auch in der Sitzordnung werden plötzlich Hinweise auf die inhaltliche Position der Figuren erkennbar. Die, die dafür beziehungsweise dagegen sind, sitzen meist in Gruppen zusammen. Rätselhaft bleibt, warum die, die im Stück immer wieder »Die Linken« genannt werden, relativ weit rechts auf der Bühne sitzen. Noch weiter rechts sitzen nur noch die, deren Funktion offenbar darin besteht, von allen blöd gefunden zu werden. Dies versuchen Regie und Autor durch extreme Überzeichnungen der Charaktere und einfache, mantraartig skandierte Ausrufe einzelner (»Schande über dieses Haus!«) leider allzu deutlich zu machen.

Und damit wird es dann doch irgendwie fast historisch – falls man dieses bedeutungsschwangere Wort in der Domstadt Köln überhaupt verwenden kann. Die große katholische Kathedrale soll nämlich nicht mehr einzige Touristenattraktion sein, sondern künftig noch eine große, repräsentative Moschee. Wo jeder zehnte Kölner an Allah glaubt, soll diese Religions­freiheit nicht mehr bloß in Hinterhöfen ausgeübt werden. Darin ist sich die Mehrheit des Rates einig. Manche aber nicht, doch die versuchen, das dialektisch umzudeuten. Es geht um die Hobbypolitiker der CDU, die zwar beteuern, grundsätzlich für Moscheen zu sein, aber irgendwie dann doch konkret gegen die einzige geplante große Moschee votieren.

An darüber hinausgehender Eindeutigkeit fehlt es dem Abend hingegen. Weder der Dramaturgie noch der Regie ist es gelungen, die vie­len verschiedenen Themen und Methoden zu einer überzeugen­den Einheit zu verbinden. Die parodistisch gebrochene Volkstümlichkeit des Anfangs wird nicht konsequent genug weitergeführt. Der Text wirkt zerfasert und wenig verdichtet. In ihrer Hilflosigkeit zitieren die Figuren wahllos Werke der Weltliteratur – von Habermas bis Grundgesetz – oft ohne erkennbaren Zusammenhang zum übrigen Text. Auch der Versuch, durch den immer wieder beschworenen Dia­log der Religionen einen Bezug zu Lessings »Nathan der Weise« herzustellen, mündet nur in einem uneindeutigen Redestreit über den Bau des muslimischen Sakralbaus und einer jüdischen Dokumentationsstätte.

Merke: Eine Fraktion stimmt immer gemeinsam ab. Das macht die Verhand­lung für die parteilichen Häuptlinge einfacher, indem sie Stimmenpakete bei Kompromissen einfach hin und her schieben. Sie haben die Verantwortung, mit ihrer Fraktion eine politische Linie zu entwickeln. Kritiker meinen, das geht manchmal bis zur innerfraktionellen Diktatur. Ist ja auch einfacher, mit Stimmenpaketen zu jonglieren und dieses politische Artistikstück hinter provisorisch hin geschusterter Erklärungs­rhetorik mit ideologischer Würze zu rechtfertigen. Wie viel ungemütlicher klingt da das Ideal der Gemeindeordnung: Die sieht auf kommunaler Ebene gar keinen Fraktionszwang vor, kein Gegenüber von »Regierung« und »Opposition«. Der Rat soll in seiner Gesamtheit als »Selbstverwaltungsorgan« nach dem richtigen Weg suchen. Ein erster Schritt in diese Richtung: Für verschiedene Abstimmungen suchen sich die Demokraten jetzt hin und wieder unterschiedliche Mehrheiten. Da dürfen neben dem rot-grünen Kernbündnis auch mal CDU, FDP oder Linke mitmachen.

Stück mit Überlänge

Nach sechs Stunden ohne Pause sind die Papierstapel erst zur Hälfte abgetragen und die Weingummitüten bereits leer. Unmerklich hat sich die große Uhr als Rampensau in den Vordergrund gespielt. Die Zeitzumutung durch das exakt choreografierte Vorrücken der Zeiger erinnert an eine Fluxus-Oper von Emmett Williams oder an Beckett, ist aber bei weitem nicht so unterhaltsam wie »Warten auf Godot«. Durch die extreme Überlänge des Abends tritt auch diese Botschaft zu sehr hinter die Form zurück. Was bleibt, ist Ratlosigkeit.

Journalisten gehen, und auf der Besucherbank sind nur noch die Hart­gesottenen und angehende Kommunalwahlkandidaten. Die Politiker kämpfen sich noch durch die Papierstapel, die vor ihnen liegen. Jede Abstimmung eine Vorlage, jede Vorlage ein Papier mit einer oder mehreren Seiten. Die meisten gucken gar nicht darauf, sie passen einfach auf, wie ihre Fraktionsspitze abstimmt. Fraktionszwang hat also auch was Gemütliches. Man sollte es Fraktionsgemütlichkeit nennen. Hört sich sowieso besser an als Zwang. Da braucht man am späten Abend auch nicht mehr so viel diskutieren. Die Journalisten und die zuhörenden Bürger sind ja sowieso schon weg. Außerdem hat keiner mehr eine Rede zum Ablesen vorbereitet, und das zweite Fass im »Consilium« ist längst angestochen.


Der Rat der Stadt Köln – live! Wer die nächste Ratssitzung als Zuschauer erleben möchte, kann kostenlos Karten bestellen. Per E-Mail an sitzungsdienst@stadt-koeln.de oder telefonisch unter (0221) 221-22075 (Mo-Fr, 8-11 Uhr). Die nächsten Termine: 25.9. und 13.11., jeweils ab 15.30 Uhr im Spanischen Bau des Rathauses.

Der Rat der Stadt Köln – zum Nachlesen für Zuhause! Neben den Niederschriften der Ratssitzungen gibt es auch die vollständigen Wortprotokolle als PDF im Internet: www.stadt-koeln.de/ratderstadt/protokolle/index.html



Klaus Fehling
Klaus Fehling, geboren 1969, ist Dramaturg und Schriftsteller und lebt in Köln. Zuletzt wurde im März dieses Jahres sein Stück ­»Risi­ken und Nebenwirkungen« am Theater Osnabrück urauf­geführt. Als Journalist schreibt er vor allem über Theater und Literatur. An Klaus Fehlings Beitrag für unsere Titelgeschichte war seine Mitarbeiterin Yasmine Salimi beteiligt. Weitere Infos auf ­
www.luftschiff.org


Frank Überall
Der Kölner Journalist Frank Überall, Jahrgang 1971, arbeitet für Rundfunk, Print- und Online-Medien sowie Presseagenturen. ­Neben Beiträgen für den WDR, die ARD und dpa schreibt er auch für die StadtRevue. Der promovierte Politologe ist Fachmann für Klüngel, Korruption, Kommunalpolitik, politische Kulturforschung, Berufs­beamten­tum und Politikerrücktritte. Er ist außerdem Autor von Sachbüchern. Zuletzt erschien von ihm »Der Klüngel in der politischen Kultur Kölns«. Weitere Infos auf www.ueberall.tv