Gedächtnisschwund
Schon eine halbe Stunde vor Verhandlungsbeginn am Morgen des 15. Januar betrat Lothar Ruschmeier den fast leeren Warteraum gegenüber von Saal 112, in dem seit November letzten Jahres der Kölner Müllprozess stattfindet. Warum war der mehrfache Geschäftsführer großer Immobilienfonds im angesehenen Kölner Bankhaus Oppenheim so blass und nervös? Er war doch nicht als Angeklagter, sondern als Zeuge geladen. Vor der schmalen Fensterfront des Warteraums lief der Zeuge unruhig hin und her, blickte aus dem Fenster, blickte immer wieder auf die Uhr. Er wählte auf seinem Handy, fragte fast flehentlich einen unsichtbaren Unbekannten: »Ludwig, bist du in der Nähe?« Danach eilte er aus dem Warteraum, fragte auf dem Flur jemanden leicht ungehalten, ob die Toilette auf derselben Etage sei, kam zurück. Doch Ludwig kam nicht. Stattdessen eilte sein langjähriger Anwalt Helmut Neumann in den Warteraum. Neumann, der als Anwalt des Berliner SPD-Vorstandes auch die Parteiordnungsverfahren gegen die Kölner Genossen wegen der Spendenstückelung durchgezogen hatte, tätschelte Ruschmeier wie einem kleinen Kind die Backe, nahm ihn in den Arm. Der Getröstete lächelte dankbar und schwach.
Keine Erinnerung
Die Vernehmung geriet zur Farce. So viel Gedächtnisschwund hatte noch nicht einmal einer der Angeklagten behauptet. Ruschmeier konnte sich an so gut wie gar nichts erinnern. Warum wurde 1992 ein privates Unternehmen in die von der Stadt gegründete Abfallgesellschaft AVG hereingenommen? »Ich kann mich an keine Gründe erinnern.« Warum Trienekens? »Ich weiß nicht.« Haben Sie sich einmal mit Herrn Trienekens getroffen? Haben Sie sich über die MVA unterhalten? »Das halte ich für möglich«, war Ruschmeiers weitestgehende Erinnerung. Ob er sich erinnere, dass Regierungspräsident Antwerpes das Unternehmen Steinmüller für den Bau der MVA empfohlen habe, ohne Ausschreibung? Dass die AVG Trienekens das Monopol auf die Anlieferung von zusätzlichem Müll zugestanden habe, um die MVA vollzukriegen? Dass die Firma Isis, die für etwa 300 Millionen Mark den langfristigen Wartungsvertrag bekommen habe, eine Tochterfirma von Trienekens sei? »Weiß ich nicht.« Selbst die Frage, ob er Mitglied im Ausschuss für Personal und Finanzen des AVG-Aufsichtsrats gewesen sei, beantwortete der Zeuge, der ja immerhin seit Beginn 1992 bis zum Ende seiner Amtszeit 1998 Vorsitzender dieses Aufsichtsrats war, mit: »Das weiß ich nicht. Es wird schon so gewesen sein.«
Detaikenntnisse
Neben dem Milliardenprojekt in Deutz – Köln-Arena/Technisches Rathaus – war die MVA der Schwerpunkt in Ruschmeiers Amtszeit. Mit Regierungspräsident Antwerpes war er der Hauptantreiber. Wie genau seine Detailkenntnisse waren, zeigte Ruschmeier 1997 in seinem Vorgehen gegen die StadtRevue und mich als Autor. Er hatte damals dem Rat gedroht, wenn die MVA nicht gebaut würde, müsse die Stadt 540 Millionen Mark Schadenersatz zahlen. Das stehe so im Generalunternehmervertrag mit Steinmüller. Das stand dort aber gar nicht. Die StadtRevue veröffentlichte im September 1997 einen Artikel, in dem dargelegt wurde, dass Ruschmeier nicht die Wahrheit gesagt hatte. Ruschmeier schlug zurück mit einstweiliger Verfügung und Verlangen auf Widerruf. In seiner eidesstattlichen Erklärung vom 22. August 1997 berief er sich auf Details des Vertrags. In einem Ermittlungsverfahren, das 1996 sieben Kölner Bürger durch eine Strafanzeige gegen Ruschmeier wegen Untreue und Nötigung – ebenfalls wegen der angeblichen Schadenersatzforderung – angestoßen hatten, legte er Ausschreibungsunterlagen und Protokolle der Bietergespräche vor.
Aktiv für die MVA
In seinen aktuellen Gedächtnisschwund schloss Zeuge Ruschmeier nun auch Karl Wienand ein. Der Angeklagte Wienand hat im Auftrag der Firma Steinmüller die korruptiven Beziehungen zur Kölner SPD hergestellt. Auf die Frage, ob er ihn kenne, antwortete Ruschmeier, dass er ihn wohl kenne, aber nicht weiter von ihm beeinflusst worden sei. Ruschmeier und Wienand agierten von Mitte der 80er Jahre bis 1990 gemeinsam im Unterbezirksvorstand der SPD Rhein-Sieg, Ruschmeier als Vorsitzender und zugleich als SPD-Fraktionschef in Troisdorf. Der Einsatz für die Müllverbrennung einte das Duo, dazu brauchte Ruschmeier nicht erst beeinflusst zu werden. Ruschmeier setzte sich für eine eigene MVA des Rhein-Sieg-Kreises ein, obwohl die MVA in Bonn schon gebaut war. Wienand und Ruschmeier bildeten den Kern der Vorbereitungsgruppe, die den Listenvorschlag für die Kreistagswahl 1989 erarbeitete, erinnert sich Paul Kröfges, von 1979 bis 1989 SPD-Kreistagsabgeordneter. »Da wurden die Gegner der Müllverbrennung auf die hinteren Plätze geschoben.«
Das Duo Ruschmeier-Wienand
Wienand, der als parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion zu den Mächtigen gehört hatte, musste 1974 zurücktreten. Er war verurteilt worden, weil er die Steuern auf Honorare aus geheimen Beraterverträgen hinterzogen hatte. Danach machte er sich an seinem Wohnort Windeck im Rhein-Sieg-Kreis als Unternehmensberater selbstständig. Er erhielt millionenschwere Beraterverträge von Trienekens und Steinmüller und war Mitglied im SPD-Bezirksvorstand Mittelrhein. Für seine Auftraggeber waren diese Funktionen Gold wert.
Wienand wurde auch Geschäftsführer der Bonner Quarzwerke. Deren Grube in Bornheim wollte er zur Goldgrube machen. Sie sollte als Deponie für die Aschen und Schlacken der von Antwerpes, Ruschmeier und Trienekens auch für den Rhein-Sieg-Kreis favorisierten MVA dienen. Vor der Kreistagswahl 1989 fanden im Oktober und November 1988 zwei Sitzungen der SPD-Kreistagsfraktion statt. Zu beiden war das Duo Ruschmeier-Wienand als Schützenhilfe gegen MVA-Kritiker wie Kröfges geladen. Ruschmeier und Wienand hatten noch Vertreter der Firmen Trienekens und Quarzwerke Bonn mitgebracht. Die Fraktion stimmte nach harten Auseinandersetzungen mehrheitlich für MVA und Deponie.
Aus der MVA des Rhein-Sieg-Kreises wurde nichts. Ruschmeier ging 1990 als Oberstadtdirektor nach Köln. Wienand verlagerte seine Aktivität ebenfalls in die Domstadt, da gab es ungleich mehr Müll. Er fädelte das korruptive Geflecht um die Kölner MVA ein. »Ich selbst und viele Genossen, aber auch Mitglieder anderer Parteien im Rhein-Sieg-Kreis haben noch gut im Ohr, wie sich Wienand seiner guten Beziehungen zu Lothar, Franz-Josef und Klaus rühmte, wenn es um die Durchsetzung seiner Interessen ging«, so Paul Kröfges. Lothar, das ist Ruschmeier, Franz-Josef, das ist Antwerpes, Klaus, das ist Mathiessen, der damalige NRW-Umweltminister (»Verbrennungsminister«).
Staatsanwalt statt Stadt-Anzeiger
Kurz nach Ausbruch des Müllaffäre hatte der Kölner Stadt-Anzeiger am 20. Juni 2002 eine Pressemitteilung Ruschmeiers zitiert, er habe »zu keiner Zeit zu einer Gruppe um Karl Wienand gehört«. Paul Kröfges wandte sich an den Kölner Stadt-Anzeiger, überreichte Redakteur Peter Berger Unterlagen. Doch Berger, der damals täglich über den Müllskandal berichtete, mochte die Ruschmeier-Legende nicht korrigieren. Wichtiger erschien ihm die Rührstory, der ehemalige Oberstadtdirektor werde im Zusammenhang der Schmiergeldaffäre von »Trittbrettfahrern erpresst«. Ein Jahr später erhielt Berger, zusammen mit zwei weiteren Redakteuren, für seine Berichte über den Kölner Müllskandal den Wächter-Preis der Tagespresse. Die Unterlagen, die der Kölner Stadt-Anzeiger nicht verwenden wollte, sind nun bei der Staatsanwaltschaft.
Mit dem Gedächtnisschwund will Ruschmeier sich wohl vor Fragen schützen, die auch die Schmiergeldzahlungen berühren. Die Razzien, die das Gericht nach der Zeugenvernehmung in Ruschmeiers Privatwohnung und bei Ruschmeiers gegenwärtigem Arbeitgeber Esch-Oppenheim-Fonds anordnete, haben dazu geführt, ihn jetzt auch als Beschuldigten einzustufen: Beihilfe zur Untreue. Aber warum, so fragen Beobachter, hat die Justiz immer noch nicht den Mut, den Vergesslichen zu fragen, ob die bisher unaufgeklärten Millionen des Schmiergeldes bei ihm angekommen oder durchgelaufen sind?