Eine fantastische Frau

Sebastián Lelio verbindet Transgender-Melodrama mit Hitchcock-Anleihen

Marina ist gerade bei Vidal eingezogen. An ihrem Geburtstag hat das Paar leidenschaftlichen Sex. Vidal fühlt sich danach nicht gut. Auf dem Weg ins Krankenhaus verschlechtert sich sein Zustand weiter. Die Ärzte können ihm nicht mehr helfen: Er stirbt an einem Aneuyrisma.

 

Ein tragisches Ereignis. Für jeden Hinterbliebenen wäre es schwer, mit solch einem Schicksalsschlag umzugehen. Doch für Marina gilt das in besonderem Maße, denn als Trans-Frau, die ungefähr halb so alt ist wie ihr verstorbener Partner, kann sie mit wenig Verständnis, geschweige denn Anteilnahme rechnen. Schon im Krankenhaus wird sie von einem Arzt respektlos behandelt, eine Kommissarin will nach Vidals Tod nicht glauben, dass die beiden wirklich eine einvernehmliche Liebesbeziehung hatten, und die Familie des Textil-Fabrikanten will sie am liebsten komplett aus dem Gedächtnis tilgen. Sogar mit Gewalt versuchen sie Marina von seiner Beerdigung fernzuhalten.

 

Was wie ein deprimierendes Sozialdrama klingt, verwandelt der chilenische Regisseur Sebastián Lelio (Interview S. 60) zu einem faszinierend schillernden Melodram über eine Frau, die für die Anerkennung ihrer Liebe und damit auch ihrer Identität kämpft. Dass »Eine fantastische Frau« dabei mit strengem Sozialrealismus wenig zu tun hat, macht schon das spektakuläre Anfangsbild klar: Es zeigt die gischtgekrönten Iguazú-Wasserfälle an der Grenze von Argentinien und Brasilien unterlegt mit einem an die Hitchcock-Soundtracks von Bernard Hermann erinnernden Streichermotiv. Auch die Farbdramaturgie zu Beginn erzeugt eine typische Hitchcock-Stimmung. Doch die Thriller-Erwartungen, die daraus entstehen, lässt Lelio geschickt in die Irre laufen.

 

Der Bezug zum Meister der Suspense liegt eher im Motiv der falschen Verdächtigung. So wie in Hitchcocks Filmen oftmals unbescholtene Bürger unter Verdacht geraten, so ist Marina ständig dem Vorurteil ausgesetzt, dass ihre Beziehung nicht auf gegenseitiger Liebe aufgebaut gewesen sein kann, sondern nur auf irgendeiner »Perversion« oder einer finanziellen Abhängigkeit. Diesen Bruch zwischen Wahrheit und Wahrnehmung (von Außen) übersetzen Lelio und sein hervorragender Kameramann Benjamín Echazarreta mit Hilfe einer leicht ins Surreale versetzten Stimmung. Dazu zählen auch Momente der kompletten Realitätsflucht, die Marinas Subjektivität widerspiegeln und für den Kinozuschauer reinstes Kinoglück sind.

 

 

Eine fantastische Frau (Una mujer fantás-tica) CHI/D/E/USA 2017, R: Sebastián Lelio, D: Daniela Vega, Francisco Reyes, Luis Gnecco, 104 Min. Start: 7.9.