Magischer Neorealismus: »Lazzaro felice« von Alice Rohrwacher

Jenseits von Hollywood

Das Filmfestival von Cannes hat bewiesen, dass man auch ohne Hollywood eine starke Filmauswahl zeigen kann

Cannes in der Krise? Von wegen, auch ohne Netflix-Filme war der 71.Jahrgang des Festivals ein guter. Die größte Überraschung in Cannes war, dass am Ende doch wieder ein Mann gewonnen hat. Wahrscheinlich standen nur selten die Chancen so gut, dass eine Regisseurin die Goldene Palme mit nach Hause nehmen würde wie in diesem Jahr. Zur Erinnerung: Nur einer Frau wurde in der 71-jährigen Geschichte des Festivals bislang diese höchste Trophäe zugestanden, und zwar Jane Campion im Jahr 1993 für »Das Piano«. Nur 82 Filme von Regisseurinnen waren in den sieben Jahrzehnten überhaupt im Wettbewerb vertreten. Zum Vergleich: 1645 Filme von Männern bekamen im gleichen Zeitraum Chancen auf eine Palme. Schweigend protestierten 82 Frauen aus der Filmbranche während des Festivals auf dem roten Teppich gegen dieses krasse Ungleichgewicht - darunter auch Cate Blanchett, die dieses Jahr die knapp mehrheitlich mit Frauen besetzte neunköpfige Jury leitete. Unausgeglichener war das Verhältnis im Wettbewerb mit drei Filmen von Frauen und 18 von Männern - sarkastisch formuliert: ein immerhin fast dreimal so hoher Frauenanteil wie im Durchschnitt der Festivalgeschichte.


Trotz #metoo und Frauenmehrheit in der Jury hätte das alles keine Rolle gespielt, wenn nicht zwei der Filme von Regisseurinnen klare Marken im Wettbewerb gesetzt hätten. Vor allem die Italienerin Alice Rohrwacher, die eine starke erste Festivalwoche mit ihrem bislang besten Film »Lazzaro felice« abschloss.


Der »glückliche Lazarus« aus dem Titel ist ein Jugendlicher, der aussieht, als sei er direkt einem italienischen Barockgemälde oder einem Film Pasolinis entstiegen. Er kommt aus dem winzigen Dorf Inviolata, dessen Bewohner ausschließlich vom Tabakanbau leben. Das bewirtschaftete Land gehört einer im benachbarten Anwesen lebenden Marquise, die sich die Pacht mit der Ernte bezahlen lässt. So hält sie die Bewohner von Inviolata in ewiger Abhängigkeit. Gäbe es nicht schon Elektrizität, erste Mobiltelefone und Autos, man könnte meinen, »Lazzaro felice« spiele in einem längst vergangenen Jahrhundert. Dazu tragen die sonnendurchfluteten, berückenden 16mm-Bilder der herausragenden französischen Kamerafrau Helene Louvart bei. Der naiv-gutmütige Lazzaro ist weniger der handelnde Held als eine Art Lackmustest für die Moral seiner Umwelt. Seine Arglosigkeit macht ihn zum perfekten Opfer. Demütigungen und Ausbeutung nimmt er klaglos hin, eigene Ambitionen scheinen ihm fremd.


Nach der ersten Hälfte des Filmes, die tatsächlich eine wahre Geschichte zum Vorbild hat, nimmt Alice Rohrwachers dritter Film eine fantastische Wendung, auf die der Name der Titelfigur einen Hinweis gibt, die aber trotzdem so überraschend kommt, dass sie nicht verraten werden soll (ein Starttermin für Deutschland wurde noch nicht bekanntgegeben, den Weltvertrieb hat die in Cannes sehr umtriebige Kölner Firma Match Factory übernommen). Rohrwachers magischer Neorealismus ist klar der italienischen Filmgeschichte verhaftet, trägt aber ebenso deutlich eine eigene zugleich verspielte wie rustikale Handschrift. Dafür gab es bei der Galavorstellung von Presse und Publikum minutenlangen Beifall. Trotz starker Filme wie Pawel Pawlikowski in erlesenem Schwarzweiß gedrehter Amour fou »Zimna wojna«, Jia Zhang-kes chinesischem Gangsterbraut-Epos »Jiang hu er nv« oder gar Jean-Luc Godards ausgestrecktem Mittelfinger in Richtung Altersmilde »Le livre d’image« wurde »Lazzaro felice« zum Favoriten - bis gegen Ende des Festivals Nadine Labakis »Capharnaüm« noch einmal das Rennen aufmischte.


Die Libanesin zeigt in Rückblenden die Geschichte Jungen Zain, der im Gefängnis sitzt, weil er den Mann seiner Schwester umbringen wollte. Rückblenden zeigen ein Leben, das von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Als Zains bettelarme Eltern seine elfjährige Schwester als Braut an ihren Vermieter verkaufen, flieht er angewidert aus seinem Zuhause. Es beginnt eine Odyssee durch Beirut, bei der der ungefähr zwölfjährige Junge, niemand weiß sein genaues Alter, die Ernährerrolle eines äthiopischen Babys zufällt, dessen Mutter in Abschiebehaft gelandet ist.


Labakis Film überzeugt vor allem in diesen Sequenzen, in der das Chaos der Millionenstadt aus der Kinderperspektive erlebbar wird. Mit dem jungen Zain Al-Rafeea gibt es außerdem einen charismatischen Protagonisten, der mit seiner Mischung aus Verletzlichkeit und Wut mühelos den Film trägt. Der Film entfaltet eine emotionale Wucht, der man sich schwer entziehen kann - allerdings nur, um auf ein zweifelhaftes Finale hinauszulaufen, das weniger die Klassengesellschaft im Libanon anklagt, als - so wirkt es zumindest - einigen Armen das Recht abspricht, Kinder in die Welt zu setzen. Vielleicht reichte es deshalb am Ende nur zum Jurypreis für Labaki, so etwas wie der Bronzemedaille von Cannes. Rohrwacher wurde für »Lazzaro felice« leider mit dem Drehbuchpreis ausgezeichnet, zusammen mit dem Iraner Jafar Panahi, der mit »Se rokh« den vierten Film präsentierte, den er seit seinem Arbeitsverbot gedreht hat.


Den Hauptpreis nahm am Ende Kore-eda Hirokazu für seine Familiengeschichte »Manbiki kazoku« entgegen, eine überraschende, aber nachvollziehbare Entscheidung. Die Goldene Palme war durchaus verdient, weil der Japaner bereits zum siebten Mal in Cannes im Wettbewerb vertreten war und bislang nur einmal einen Jurypreis entgegengenommen hat, obwohl seine Filme konstant zu den jeweils besten eines Jahres gehörten. In ihrer Zurückgenommenheit, ihrem Verzicht auf formale Pyrotechnik - ganz in der Tradition seines großen Landsmanns Ozu Yasujirō - kann man seine Werke allerdings leicht unterschätzen. In »Manbiki kazoku« geht es um eine Familie, die mit allen möglichen legalen, halblegalen und illegalen Mitteln ihr Überleben sichert. Gleich zu Beginn geht der Vater mit seinem Sohn auf eine Diebestour in einen Supermarkt. Auf dem Heimweg nehmen die beiden ein frierendes Mädchen mit, das offenbar von ihren Eltern misshandelt wird. Auch wenn es in der Familie Shibata an allem fehlt, wird die kleine Rin aufgenommen und Teil der unkonventionellen Gemeinschaft. Wie schon in »Like Father Like Son« (2013) geht es auch in Kore-edas neuem Film um die Frage, was eine Familie ausmacht. Was ist wichtiger: Biologie oder Liebe? »Manbiki kazoku« ist dabei weniger schematisch aufgebaut als »Like Father Like Son« und nimmt auch die weiteren ökonomischen Verwerfungen nicht nur der japanischen Gesellschaft in den Blick, in der ein Job nicht mehr unbedingt reicht, um eine Familie durchzubringen.


Solch einen »bescheidenen«, zutiefst humanistischen Film mit dem Hauptpreis auszuzeichnen, passte zu einem Jahrgang in Cannes, der
weniger auf Stars und große Namen setzte als auf filmimmanente Qualitäten. Natürlich war diese Bescheidenheit zum Teil erzwungen durch den viel kommentierten Rückzug der Netflix-Produktionen aus dem Wettbewerb, aber sie tat einem Festival gut, das in den vergangenen Jahren an seinem eigenen Erfolg zu ersticken drohte. Das hindert besonders die US-Presse nicht daran, die Bedeutung des Festivals schon schwinden zu sehen, das kann man allerdings nur einem rein ökonomischen und angloamerikanisch zentrierten Blick zuschreiben.


Mit starken Filmen vor allem aus Asien und Europa hat Cannes 2018 gezeigt, dass es auch mal ohne Hollywood geht. Und auch wenn 2018 keine Regisseurin den Hauptpreis gewonnen hat, eine weniger starke Fixierung auf etablierte Namen könnte zukünftig helfen, den Anteil von Filmemacherinnen im Wettbewerb endlich deutlich zu erhöhen.