Zwischen Denkmal und Schrott

Keine andere Architektur-Epoche prägt Köln so stark wie die60er und 70er Jahre. Bei vielen Gebäuden steht in den nächsten Jahren die Entscheidung bevor: Sanierung oder Abriss und Neubau? Doch es gibt noch andere Möglichkeiten

In Deutz kann man eine Zeitreise machen. Wer das Ingenieurwissenschaftliche Zentrum (IWZ) der Technischen Hochschule betritt, glaubt, in den 70er Jahren gelandet zu sein. Betonstreben und bauchige Oberlichter an der Decke, blaue Treppenaufgänge und orangegelb gestrichene Türen – ein Ambiente, das Martin Bredenbeck ins Schwärmen bringt. »Es hat absoluten Seltenheitswert, dass die Gestaltung der 70er Jahre so gut erhalten ist«, sagt der Geschäftsführer des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Landschaftsschutz. Das 1977 eröffnete IWZ steht unter Denkmalschutz. Trotzdem wird es in einigen Jahren abgerissen: In Deutz entsteht ab 2020 ein neuer Campus mit einer »technisch und baulich zeitgemäßen Infrastruktur«, heißt es beim Bauherrn, dem Bau- und Liegenschaftsbetrieb NRW.

 

Das IWZ ist ein Paradebeispiel für den Umgang mit Gebäuden der 60er und 70er Jahren, einer Epoche, in der so viel gebaut wurde wie danach nie wieder. Nun stehen die Zeugnisse des Baubooms auf dem Prüfstand. Viele Bauten sind marode, technisch veraltet, es hapert am Brandschutz, die Energiebilanz fällt schlecht aus. »Die Bauten der 60er und 70er Jahre werden schnell als nicht mehr nutzbar definiert«, sagt Jörg Beste, Geschäftsführer des Architekturforums Rheinland. Beim Deutsche-Welle-Funkhaus am Raderberggürtel ist der Abriss schon beschlossen, ebenso beim Bezirksrathaus Rodenkirchen.  

 

Beste sieht in Köln einen Umwälzungsprozess im Gange, angeheizt durch steigende Einwohnerzahlen und die brummende Bauwirtschaft. Verändert Köln sein Gesicht in naher Zukunft genauso drastisch wie damals in den 60er und 70er Jahren, als unzählige Vorkriegsbauten der modernen Stadt- und Verkehrsplanung Platz machen mussten? 

 

Wenn heute Nachkriegsbauten abgerissen werden, spendiert die Bevölkerung oft Applaus. Protest regt sich kaum. Die Zweite Nachkriegsmoderne gilt weithin als seelenlose, monotone Klotz-Architektur — im Gegensatz zu den Bauten der unmittelbaren Nachkriegszeit, die gerade in Köln (Riphahn-Bauten!) wieder eine große Fangemeinde gewonnen haben mit ihrer Leichtigkeit und den organischen Formen. Dagegen die 60er und 70er: massiv, ungeschliffen, rücksichtslos in die Stadt gesetzt. 

 

»Die Vorwürfe gegenüber diesen Bauten treffen zum Teil ja zu«, sagt der Denkmalpfleger Martin Bredenbeck. Er sitzt auf einer Bank vor dem Ingenieurwissenschaftlichen Zentrum und blinzelt in die Sonne. »Das IWZ hat keinen Bezug zur städtebaulichen Struktur. Es ist seine eigene Struktur.« Auch die Tatsache, dass der Bau auf einem Parkhaussockel sitzt und die Erdgeschossebene dem Autoverkehr vorbehalten ist, fördert nicht gerade einen nachbarschaftlichen Austausch mit dem Veedel, wie man ihn heute anstrebt.

 

Als Grundlage diente den Architekten seinerzeit ein Bausystem der »Zentralen Planungsstelle zur Rationalisierung von Landesbauten« in Nordrhein-Westfalen, das man bei sechs verschiedenen Hochschulen anwandte. Heute soll alles individuell sein, doch damals strebte man nach Standardisierung, im Sinne von: der beste Standard — und zwar für alle. Das galt zumal beim Bau von Hochschulen, die allen Bevölkerungsschichten offen stehen sollten. »Das IWZ ist Ausdruck einer Zeit, in der alles plan- und machbar erschien«, so Bredenbeck. 

 

So geraten er und andere Denkmalpfleger nun in die Lage, Bauten wie den Ebertplatz zu verteidigen, die ihrerseits ohne Rücksicht auf historische Bausubstanz entstanden sind. »Die 60er und 70er müssen jetzt inventarisiert werden. Das ist eine ähnlich große Aufgabe wie Anfang der 80er Jahre mit den Gründerzeitwohngebieten.« Damals fuhren die Denkmalpfleger die Neustadt mit dem Auto ab und stellten ganze Straßenzüge unter Schutz. Heute läuft die Inventarisierung anders ab. »Ein Gutachten für ein Bauwerk nimmt ein halbes bis ein Jahr Zeit in Anspruch«, berichtet Kölns Stadtkonservator Thomas Werner. Die Denkmalpfleger gehen dabei nicht chronologisch vor, sondern nach Bautypus, und innerhalb der Typen nach Dringlichkeit — etwa wenn bekannt wird, dass ein Bau vor der Sanierung oder dem Abriss steht. Kürzlich stellte Werner das Colonia-Haus in Riehl unter Schutz, das von 1973 bis 1976 das höchste Gebäude Deutschlands war. »Ob noch ein weiteres Wohnhochhaus als Denkmal eingetragen wird, ist unklar.« Nur ein Bruchteil der 60er- und 70er-Jahre-Bauten wird in den Rang eines Denkmals aufsteigen. »Wir sprechen hier von einer zweistelligen Zahl im Kölner Stadtgebiet«, so Werner. Hinzu kommt: Wenn der Abriss bereits politisch beschlossen und ein Architektenwettbewerb durchgeführt wurde wie im Fall des Bezirksrathaus Rodenkirchen, fange man mit der Bewertung gar nicht mehr an. Es gebe genug andere Gebäude, die gesichtet und analysiert werden müssten. »Das hat auch etwas mit sinnvollem Handeln zu tun«, so Werner. Manche sagen auch: Wenn politische oder ökonomische Interessen im Spiel sind, ist der Denkmalschutz machtlos.

 

Noch etwas hat sich verändert bei der Arbeit der Denkmalpflege. »Anders als damals gibt es heute keinen Rückhalt aus der Gesellschaft«, sagt Martin Bredenbeck. Werner spricht von »sehr geringer Unterstützung«, wenn es um den Schutz von Bauten der 60er und 70er Jahre geht. Daran können auch Fangemeinden wie »die Brutalisten« nichts ändern, die Fotos von skulpturalen Betonbauten der Epoche auf Instagram hochladen und sich gegenseitig zu ihren Funden gratulieren. Dort werden jedoch nur besonders expressive Beispiele der Epoche gefeiert. Aber was passiert mit dem unbeachteten und nicht unbedingt denkmalwürdigen Rest?

 

»Es gibt gute Beispiele, wie man diese Gebäude umbauen und umnutzen kann«, sagt Christine Kämmerer von der Landesinitiative Stadtbaukultur NRW. Der ehemalige Sitz der West LB in Dortmund etwa wurde zu einem Gesundheitszentrum umgebaut und ist bei den Dortmundern heute wieder ein beliebtes Gebäude. Häufig fehlten für einen Um- oder Weiterbau aber die Konzepte. »Das Bauen im Bestand ist unbekanntes Terrain, auch unter Architekten. Da fehlt die Ausbildung. Erst jetzt wird es langsam zum Thema an den Hochschulen«, so Kämmerer. Doch in Zukunft sei es gut möglich, dass die Umnutzung von Bauten der Nachkriegsmoderne ebenso populär werde wie es bei ausgedienten Fabrikhallen der Vorkriegsära heute schon der Fall ist.

 

Allerdings wurde in den 60er und 70er Jahren viel mit neuen Materialien experimentiert, etwa mit Kunststoffen. Nicht immer mit gutem Ausgang. Viele Bauten verschleißen deshalb schneller als etwa die heute so beliebten Gründerzeithäuser. Energetisch seien die Nachkriegsbauten eine Katastrophe, heißt es oft. »Das Argument, ein Neubau sei umweltfreundlicher, stimmt aber trotzdem nicht immer«, so Kämmerer. Wie viel Energie für den Abriss und Neubau aufgewendet werden müssen, werde in den Rechnungen oft vernachlässigt. »In vielen Fällen kann es nachhaltiger sein, ein Gebäude zu erhalten und zu ertüchtigen.« Auch das Recyclen von Gebäuden sei möglich.

 

Der Denkmalpfleger Martin Bredenbeck stellt ein anderes, häufig vorgebrachtes Argument infrage: Nämlich dass ein Neubau billiger sei als eine Sanierung. »Da spielen sicher auch Interessen der Bauwirtschaft eine Rolle«, so Bredenbeck. Die Frage sei zudem, wie weit man mit einer solchen Rechnung komme. »Den Kölner Dom abzureißen und nach neusten Maßstäben zu bauen, wäre auch billiger, als ihn ständig zu unterhalten.« Auch das Kurfürstliche Schloss in Bonn sei als Uni-Hauptgebäude nicht optimal geeignet, trotzdem komme keiner auf die Idee, es durch einen Neubau zu ersetzen. 

 

Bauten der 60er und 70er Jahre stellen sich häufig massiv in den Weg, so auch das Bezirksrathaus Rodenkirchen von 1966. Der Bau, der ihn ersetzen soll, sieht auf den Skizzen des Architekturbüros JSWD wie das genaue Gegenteil aus: Transparent und von innen beleuchtet, wird es als filigrane »Stadtloggia« mit »Belle Etage« beworben, deren »Räume sich zum Vorplatz öffnen«. 

 

Transparenz als Zauberwort, Glasfassaden, die quasi automatisch Bürgernähe erzeugen? »Solche Skizzen sind Verkaufsstrategien und entsprechen nicht der gebauten Wirklichkeit«, sagt Bredenbeck. »Dem Bürger nützt ein verglastes Rathaus nichts, wenn er drinnen trotzdem stundenlang warten muss.« Er schaut aufs IWZ, lobt die feinen Fensterprofile, die Steckteilästhetik. Das Erdgeschoss ist rundum verglast. »Ist doch ganz schön transparent, oder?«