Nach dem Urteil

Xavier Legrands Familiendrama ist

beklemmend intensiv

Ein crime passionnel, ein Verbrechen aus Leidenschaft: In einem psychischen Ausnahmezustand, einer wahnhaften Verfassung vergreift sich ein Mensch an einem anderen, den er doch liebt. Eine Liebe, die ungesund ist, aber stark. Und die letztlich wahrscheinlich vor allem mit Verzweiflung zu tun hat.

 

In »Nach dem Urteil«, der letztes Jahr beim Filmfestival von Venedig mit dem Regiepreis bedacht wurde, ist es Antoine Besson, Ehemann von Miriam Besson, der sein psychisches Gleichgewicht verliert. Legrand inszeniert ihn als bulligen Wüterich, dem die Kontrolle über den eigenen Schmerz entgleitet und der seine Familie dazu bringt, vor ihm in Deckung zu gehen.

 

Es ist nicht das erste Mal, dass sich Legrand filmisch mit einem derart beklemmenden Sachverhalt auseinandersetzt. Sein Kurzfilm »Avant que de tout perdre« (2013) zeigt einen Tag im Leben einer Frau, die beschlossen hat, ihren gewalttätigen Mann zu verlassen. Die Frau heißt Miriam. Der Mann Antoine. Gespielt werden sie von Lea Drucker und Denis Ménochet — dieselben Schauspieler wie auch in Legrands Langfilmdebüt »Nach dem Urteil«. Keine Frage, man hat es mit demselben Paar zu tun. Weiß man das, hat man eine Ahnung von der Dynamik, die sich im Verlauf des Films entwickelt und von der Angespanntheit, die sich auch auf den Brustkorb des Zusehenden überträgt. 

 

Begegnet man Antoine und Miriam in »Nach dem Urteil« ohne Vorwissen, ist es nicht ganz so klar: Der Film nimmt sich zum Auftakt viel Zeit für einen Gerichtsprozess, in dem verhandelt werden soll, ob Antoine seinen Sohn Julien in regelmäßigen Abständen bei sich haben darf oder nicht. Der Junge wehrt sich in Form eines verlesenen Briefes dagegen — doch An-toine und dessen Anwältin wirken gefasst: Natürlich steht das Kind unter Beeinflussung seiner Mutter. Das Urteil fällt zugunsten des Vaters aus.

 

Was das für alle Beteiligten bedeutet, kann in den Gesichtern leicht abgelesen werden: Antoines maskengleiche Züge, hinter denen ein Höllenfeuer lodert, Miriams nervöse Blässe und Julians Miene, die eine ganze Palette kindlicher Not ausdrückt. Legrands Debüt sitzt. Es sitzt so gut, dass es einen selber beinahe aus dem Gleichgewicht bringt. 

 

 

Nach dem Urteil (Jusqu’à la garde)
F 2017, R: Xavier Legrand,
D: Léa Drucker, Denis Ménochet,
Thomas Gioria, 93 Min. Start: 23.8.