Social Music

Der Saxofonist Joachim Zoepf hat über Jahre die Kölner Improvisationsszene geprägt. Jetzt veröffentlicht er ein neues Soloalbum

Als am späten Nachmittag des 29. August 1970 Miles Davis mit sechs ziemlich freakigen Mitstreitern die Bühne des Isle-of-Wight-Festivals betrat, da wurde er nicht als Jazzmusiker angekündigt. Davis hatte sich das verbeten. Als der Conferencier ihn nach seiner Musik frage, beschied ihm Davis knapp: »Call it anythin‘«. Der Ausspruch ist legendär geworden. Nicht nur weil 600.000 Besucher über dieses entfesselte und spacige »anythin‘« aus dem Staunen kaum herauskamen. Davis war 1970 der bekannteste, erfolgreichste Jazzmusiker, alles verdankte er der Welt des Jazz (so dachte man und irrte sich), wie konnte er das nur beiseite schieben? Er konnte es erstaunlich gut. Der schweigsame, kehlkopfversehrte Musiker erklärte sich in späteren Jahren nur ein einziges Mal: Social Music solle man seine Kunst nennen — gesellschaftliche Musik, Musik für die Gesellschaft, für alle, die hören wollen. Es wirklich wollen.

 

Davis sprach damit nicht nur die Sehnsucht so vieler Musiker aus, etwas zu spielen, was sich dem Terror der Identität entzieht, was »innen« frei von Zwängen ist und »außen« befreit von Erwartungen nur den eigenen Regeln folgt. Paradoxerweise hat sich Jazz — und Randbezirke der Neuen Musik — als die Musik oder besser: Tradition erwiesen, die diese Sehnsucht am angemessensten zu erfüllen verspricht. Paradox ist das deshalb, weil Jazz sich dabei zu verschlingen droht. Er hebt sich selbst auf, konsequenter Jazz ist kein Jazz mehr — call it anythin‘. Miles Davis‘ Haltung ist exemplarisch. Nachhaltiger wurde die Selbstaufhebung des Jazz (und der Neuen Musik) hin zu einer freien Musik freilich von anderen betrieben. Für diese Welle, die seit Mitte der 60er Jahre rollt und sich immer noch nicht gebrochen hat, haben sich die recht hilflosen Kategorien Begriff Free Jazz und Improvisierte Musik eingebürgert.

 

Der Weg von Miles Davis zu Joachim Zoepf ist einerseits unendlich weit, andererseits nur ein kleiner Sprung. Das ist eben das (Nicht-)Wesen der Improvisierten Musik: Bei allen nicht zu relativierenden Differenzen zwischen den Epochen und Protagonisten existiert eine Ähnlichkeit in der radikalen Haltung. Und Zoepf ist radikal. Seit fast 40 Jahren ist der heute 63-jährige Saxofonist und Klarinettist in Kölner (Musik-)Szenen unterwegs. Er hätte in den 80er Jahren seinen Eigensinn etwas abschleifen und weiter auf Jazz-Muster setzen können, um gewisse Publikumserfolge erzielen zu können. Hat er aber nicht. Zoepfs Musik wurde immer grundsätzlicher, unbestechlicher, auch unversöhnlicher, dafür immer verbindlicher im vorbehaltlosen Zusammenspiel mit Gleichgesinnten.

 

»Letztendlich kann die ›frei improvisierte Musik‹ als eine ›Ästhetik des Widerstands‹ bezeichnet werden, sie antizipiert zumindest in der Anlage ihrer Spielweise eine radikaldemokratische und nonhierarchische Gesellschaft«, schreibt er. Zoepf spricht aus dem Selbstbewusstsein einer undogmatisch sozialistischen Prägung, die er in den 70er Jahren in der Jugendzentrumsbewegung und später im Sozialistischen Büro erfahren hat. Er weiß deshalb auch, wie fragil die Radikalität der freien Musik ist, dieses Prekäre ist der »aktuellen kapitalistischen Produktionsweise geschuldet«, dem »allgemeinen gesellschaftlichen Prozess der Atomisierung der Individuen«. Sie ist diesen Zwängen unterworfen — sie widersteht ihnen aber auch, davon handelt Zoepfs Musik. Mal im Krach-Modus, aber meistens feingeschliffen, versunken in Klangedetails, in denen Klischees keinen Raum mehr finden können. Im Spiel klingt seine Jazz-Vergangenheit an, aber diese Reminiszenzen sind Durchgangsräume, durch die Improvisationen hindurch eilen. 

 

Zoepf war in den 90er und Nuller Jahren einer der Motoren einer bundesweiten und auch in Köln — im Ehrenfelder Loft — präsenten Bewegung von Improvisatoren sans phrase, die noch Free Jazz und Neue Musik hinter sich lassen wollten. Man verfolge seinen Weg vom free-jazzig erdigen Lunx-Quartett (1991) zur schwebenden, Halt nur noch in sich selbst findenden Musik von Quatuohr (2002, 2003). Gleichzeitig wuchs seine Skepsis: »Allerdings sehe ich, meinen Erfahrungen nach, die Gruppenbildung in Kollektiven kritisch, da dort durch eine Art Gruppenzwang und Dominanzverhalten repressive Toleranz anzutreffen ist. Die Hierarchisierung existiert oft informell und verschleiert. Meine Konsequenz daraus ist, dass ich in freier Assoziation auf der Sachebene mit Kollektiven kooperiere, in mein Berufs- und Privatleben mir aber nicht rein reden lasse.« Man kann es auch so formulieren: Improvisierte Musik verweist auf gesellschaftliche Freiheit, antizipiert sie als künstlerisches Medium, aber sie ist noch nicht diese Freiheit.

 

In den letzten Jahren ist für Zoepf die Kooperation mit den Hannoveraner Improvisationsforschern Günter Christmann und Elke Schipper in den Mittelpunkt gerückt, aus Köln ist er schon vor längerer Zeit weggezogen, mit seiner Familie lebt er in Erftstadt. Wichtiger ist auch die Solo-Arbeit geworden, für sie greift er nicht nur auf Saxofone und Bassklarinette zurück, sondern zunehmend auf Elektronik, mit der er noch harscher verfremden kann, aber auch vielschichtiger arbeiten. Seit 1989 veröffentlicht er Klangskizzen und Studien, für die nur er selbst verantwortlich ist. In den nächsten Wochen erscheint mit »Geschmacksarbeit« seine sechste Solo-Einspielung. Sie ist ein politisches Statement. Es gibt aber keine Slogans, keinen AgitProp, sondern das genaue Gegenteil: Hörschulung. Zoepf möchte die Ungebundenheit so tief erforschen, bis sie sich bricht und den Nährboden für eine Haltung des Widerstandes abgibt. Richtig, das ist Arbeit am Geschmack (an der Geschmacksbildung) — kritisch materialistisch.

 

 

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