Keine Angst vor Kitsch: Miriam Gossing und Lina Sieckmann, Foto: Marcel Wurm

Architektur und Gespenster

Die Kölner Filmemacherinnen Miriam Gossing und Lina Sieckmann finden

das Unheimliche unter perfekten Oberflächen

Kristallkronleuchter, Brokattapeten, cremegrüne Wandvorhänge — ein Besuch im Café Wahlen am Hohenstaufenring gleicht einer Reise in die Vergangenheit. Nicht zufällig wollen sich Miriam Gossing und Lina Sieckmann hier zum Interview treffen, auch wenn die meisten Gäste an diesem Montagnachmittag ihre Großeltern sein könnten. »Das Café Wahlen passt gut zu unseren Filmen. Wir zeigen gerne solche Inszenierungen, Räume, die andere kitschig finden«, sagt Sieckmann. »Es geht in unseren Filmen oft um in die Architektur eingeschriebene Sehnsüchte. Zum Beispiel um Nostalgie. Wir nehmen dieses Gefühle dann auseinander«, ergänzt Gössing.

 

In ihrem aktuellen Zwanzigminüter »Souvenir«, der gerade Weltpremiere auf dem Internationalen Filmfestival von Rotterdam feierte, geht es unter anderem um die Sehnsucht nach fernen Ländern, nach Exotik und Luxus. Gedreht wurde auf einer Fähre, die auf der Nordsee verkehrt. Die Innenarchitektur versucht aber eher das Flair interkontinentaler Kreuzfahrten aufleben zu lassen, mit einem logengesäumten Speisesaal, Panoramafenstern, einer imposanten Bar und einem Spielcasino.

 

Details dieser durchkomponierten Freizeitarchitektur zeigen Sieckmann und Gossing in starren, menschenleeren Einstellungen. Doch diese auf billige Art luxuriöse Scheinwelt ist nicht völlig unbelebt. Es wirkt, als seien die Räume gerade erst verlassen worden: Eine Kugel rollt noch im Roulettekessel, die Neonlichter blinken, als sei eine lange Partynacht gerade zu Ende gegangen. Zudem haucht das tanzende Korn des analogen 16mm-Films, auf dem die Kölnerinnen alle ihre Filme drehen, den Oberflächen Leben ein. Zu den Bildern dieses Geisterschiffs erzählt eine Frau aus dem Off fast flüsternd aus ihrem Leben. Auf der Tonspur entfaltet sich so die Geschichte einer Seemannsbraut, die als alleinerziehende Mutter das Leben an Land meistern muss, während ihr Mann an fernen Gestaden weilt. Zu sehen ist diese Frau nie.

 

Weitgehend menschenleer war schon »Ocean Hill Drive« von 2016, der Debütfilm von Gossing und Sieckmann. Darin wird ein Vorort von Boston von einem seltsamen Phänomen heimgesucht: Ein Schatten huscht in kurzen Abständen durch die Küchen, Wohn- und Schlafzimmer, über Gardinen, Teppiche und Möbel der Häuser. Die Ursache für dieses Phänomen wird nie gezeigt — eine immaterielle Bedrohung sucht die suburbane Idylle heim.

 

»Wir sind ziemlich stark vom Horrorfilm beeinflusst«, erzählt Gossing. »Wir kommen aus einem Dorf im Bergischen Land. Ich habe da mit meinem kleinen Bruder an nebelverhangenen Abenden immer Horrorfilme geguckt. Wo wir aufgewachsen sind, wurden auch die Waldszenen von Lars von Triers »Antichrist« gedreht.« Sieckmann ergänzt: »Im Horrorfilm dominieren gewöhnlich ja die Schockmomente, aber wir finden eher interessant, wenn man den Schrecken gar nicht zuordnen kann. Das Unheimlichste ist ja das Bekannte, das ein bisschen anders ist.«

 

Auch wenn Wälder in ihren Filmen keine Rolle spielen, Gosssings und Sieckmanns Arbeiten könnte man durchaus als »Provinz-Horrorfilme« bezeichnen — das hat nichts mit dem Ort der Handlung zu tun, sondern mit der Art, wie sie das Unheimliche, die Brüche in der Welt inszenieren. Diese treten nicht offen zutage, wie etwa in den Straßen einer Großstadt, sondern müssen erst hinter einer »heilen« Oberfläche hervorgeholt werden. Gossing stimmt zu: »Genau, aber das dürfen wir unseren Müttern nicht sagen, dass das alles Traumaverarbeitung ist«. Sie lacht.

 

So wie ihre Filme auf gespenstische Art zwischen belebt und unbelebt changieren, verwischen sie auch auf eine schwer greifbare Weise die Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion. Das gilt wie beschrieben für die sorgfältig in Szene gesetzten realen Schauplätze, aber auch für die Off-Kommentare, bei denen nie klar ist, ob sie die Geschichte einer realen Person wiedergeben oder erfunden sind. »Wir führen ohne Kamera sehr lange Interviews mit Frauen«, sagt Gossing über die Herkunft der Texte. »Die transkribieren wir Wort für Wort mit jedem Versprecher. Daraus collagieren wir den Off-Text. Das ist wie eine literarische Technik. Die Erzählung können wir so mitbestimmen und trotzdem sind die Aussagen authentisch. Diese Mehrstimmigkeit finden
wir spannend.«

 

Gossing und Sieckmann kennen sich seit Kindertagen und sind ein eingespieltes Team, auch bei der Arbeit. »Wir teilen alles«, erklärt Gossing. »Wir entwerfen die Ideen gemeinsam. Am Set weiß jede von uns, wie die andere das Bild gestalten würde«. Mit Erfolg: In den vergangenen fünf Jahren haben die beiden Absolventinnen der Kölner Kunsthochschule für Medien weit mehr als ein Dutzend Preise und Stipendien gewonnen — sowohl von Kunst- wie von Filminstitutionen. Gerade arbeiten sie an ihrem ersten Langfilm, für dessen Recherche sie 2017 das Wim-Wenders-Stipendium bekommen haben. Thema wird das so genannte »Mermaiding« sein — es geht also um Menschen, die sich aus den verschiedensten Gründen privat oder professionell als Meerjungfrauen verkleiden. Gossing und Sieckmann begeben sich also wieder in eine Zwischenwelt: zwischen Mensch und Tier, zwischen die Geschlechter.

 

Und auch zwischen die Kunstgattungen: »Eine Dreikanalkunstinstallation denken wir bei der Produktion mit«, erklärt Sieckmann. Und Gossing ergänzt: »Das Kino gibt einem leider nicht die Freiheiten wie die Kunst. In der Kunst müssen wir uns vor niemandem rechtfertigen.«