Ein Teil von uns

 

Auf »Proto« nehmen Holly Herndon und Matt Dryhurst die Artificial Intelligence als Mitglied in ihr Ensemble auf

Manchmal will einfach nichts so klappen, wie man sich das vorgestellt hat. Zuhause mag das nur nerven, auf der Bühne potenziert sich der Ärger aber leicht um Scham und Häme. Es sei denn, man ist souverän genug, die Probleme einfach in die Performance zu integrieren. So wie Holly Herndon und Matt Dryhurst an diesem Augustnachmittag 2015 in Oslo auf dem Oya Festival, als ihnen das Set aufgrund von Computerproblemen derartig entgleitet, dass sie am Ende statt der Songs ihres zu diesem Zeitpunkt aktuellen Albums »Platforms« eine Art »Stand-up Comedy Act« zum Besten geben, wie es Herndon rückblickend nennt, und Parolen wie »We Try One More Time« oder »We Are Never Booking You Again« auf die Leinwand hinter sich werfen.
Letzterer Spruch sei danach viral gegangen, erzählt Holly Herndon nun vier Jahre später in einem Cafe in ihrer Wahlheimat Berlin. Sie berichtet, dass es sogar eine Firma gibt, die Merchandise mit diesen Sprüchen anbietet — ohne freilich zu wissen, wer die Urheber sind. Diese Anekdote ist symptomatisch für den entspannten Umgang, den Holly Herndon und ihr Partner Matt Dryhurs mit ihrer Musik pflegen. Denn es geht den beiden nie darum, den akademischen Charakter auszustellen. Sie bemühen sich Werk und Präsentation so zu gestalten, dass niemand vom potentiellen Dialog ausgeschlossen wird.

 


Auf »Platforms«, dem Album das Herndon zur Vorzeigekünstlerin der elektronischen Avantgarde im digitalen Zeitalter hat werden lassen, hinterfragten Dryhurs und Herndon lange vor den Datenskandalen um Facebook und Google+ die Abgründe der Social Media und plädierten für eine Rückbesinnung auf den klassischen Gemeinschaftsgedanken. Das neue Album »PROTO« führt diese Idee nun fort, indem sie einen Chor aus befreundeten Musikerinnen um sich geschart haben — auch wenn es erstmal um etwas ganz anderes zu gehen scheint, nämlich um Artifical Intelligence. Die AI im Zentrum von »PROTO« trägt den Namen Spawn und ist für Herndon genauso ein Mitglied des Ensembles wie alle anderen auch, da sie auf Basis menschlicher Performances trainiert wurde und so » unsere emotionalen und biologischen Erfahrungen reflektiert«.

 


Für Dryhurs und Herndon war es sehr wichtig, dass die Auseinandersetzung mit AI eben nicht auf automatisierte, quasi unbegrenzte Kompositon hinausläuft, das wäre schlichtweg zu langweilig, merkt Holly Herndon an und wird für einen Moment ernst: »Die meisten neigen dazu, AI als eine vollautomatische nicht menschliche Intelligenz zu sehen und vergessen dabei die eigene Rolle in dem Prozess. AI ist ein Teil von uns, sie basiert auf menschlicher Kreativität — und wir müssen als Gesellschaft Institutionen herausbilden, die die Entwicklungen steueren. Noch können wir die Zukunft gestalten, in zehn Jahren mag es zu spät sein.«

 


Die beiden haben sich deswegen für einen Ansatz entschieden, der den Prozess sichtbar macht — und die Fehler auf dem Weg zum Ergebnis nicht mehr als Stigma begreift, sondern offen kommuniziert. »An der Arbeit mit Sound als Material, bei dem die AI zum Einsatz kommt, reizte uns gerade, dass man das neurale Netzwerk in diesen Sounds hören kann«, führt Herndon aus. »Das empfinden wir als so viel realistischer. Man hört das raspeln, wenn die Neutronen zu erkunden versuchen, wie sie die Audiosequenz skulptieren können, und man kann auch die Stimmen der Leute hören, die die AI trainiert haben.« Auf »PROTO« finden sich mit »Canaan« und »Evening Shades« gleich zwei Songs, die das Ensemble als gemeinschaftliche Praxis beim »Live Training« greifbar machen und den Akt des »im Dunklen herumstochern« offenlegen.
Dieses Bekenntnis zum Momenthaften und auch zu Fehlern ist für Holly Herndon, die derzeit ihren Doktor am CCRMA Institut der Stanford University macht, ein Grundsatz ihrer Arbeitsweise. »Wenn alle immer nur einverstanden mit dem Stand der Dinge gewesen wären, dann wären wir heute nicht an dem Punkt, dass eine Software selbst Musik kreieren kann«, argumentiert sie. »Es bedarf immer eines Ökosytems, das die Entwicklung von neuen Dingen ermöglicht und fordert — das gilt für uns als Spezie gleichermaßen wie für die Gesellschaft und die Kunst.«

 


Die große Leistung von Herndon und Dryhurst ist es nun, dass »PROTO« nicht nur all das — und noch viel mehr — thematisiert, sondern dass es rein musikalisch gesehen ein herausragendes Werk geworden ist, nicht zuletzt da es sich von der einen Soundzuschreibung freimacht und in einem freien künstlerischen Prozess artifiziell und natürlich anmutende Sounds über weite Strecken in den Dialog treten und sich gegenseitig die Bühne bereiten lässt.

 


Neben eher atmosphärischen, an das Opus eines Scott Walkers erinnernden Stücken wie »Crawler« und »Swim« sticht auf »PROTO« vor allem »Eternal« heraus, das alle Ensemblemitglieder zu einem euphorischen Chor eint, der die Zukunftsängste auszublenden vermag und einer optimistischen Grundstimmung den Weg bereitet. »Eternal« flirtet mit religiösen Parametern, aber das sei eher ein Nebeneffekt der Suche nach einer geteiliten öffentlichen Emotionalität, führt Herndon aus, und keineswegs intendierter Zielzustand. »Uns ging es darum, eine neue Form von Ritual zu entwickeln, das das Gefühl der gegenseitigen Abhängigkeit zum Ausdruck bringt ohne dabei auf alte Methologien zurückzugreifen.«

 


Die passende Hinleitung zum Ende des Albums, dem »The Last Gasp«.  Zu viel von der Storyline hinter »PROTO« möchte Holly Herndon nicht erklären, das hat sie während des Gesprächs immer wieder betont, aber soviel gibt sie dann doch noch Preis: »The Last Gasp« bezieht sich weder auf die Menschen noch auf Spawn, der letzte Atemzug stehe vielmehr für das Ende eine bestimmten Ideologie. Eine letzte Erinnerung an uns alle, dass die Uhr tickt.

 



Tonträger: Holly Herndon, »Proto«, erschienen auf 4AD/Beggars Group