Skulptur: »Ein Mausoleum für Lebende« von Denis Stuart Rose, Foto: Heino Lonnemann

Menschen, in Säcke gesteckt

Eine Ausstellung des Landschaftsverbands Rheinland (LVR) soll über die Ermordung von Psychiatrie­patienten während der Nazizeit aufklären. Über die Zustände in ihren eigenen Kliniken nach dem Krieg schweigt die Behörde. Jörg Kronauer über mangelnde Aufarbeitung und Geschichtsklitterung.

Einmal habe er erlebt, wie ein Patient »eine Packung« bekam, sagt Rainer Kukla. Eine »Packung« war eine gefürchtete Strafmaßnahme, die in den 60er Jahren in psychiatrischen Landeskrankenhäusern im Rheinland angewandt wurde. Der widerspenstige Patient wurde in nasse Bettlaken gewickelt, berichtet Kukla, der damals in der Psychiatrie in Süchteln als Hilfspfleger arbeitete. »Und wenn das trocknet«, dann »zieht sich das zusammen und übt einen unglaublichen Druck aus«.

 

Misshandlungen aller Art waren Menschen ausgesetzt, die damals das Unglück hatten, in die »Klapse« gesteckt zu werden. Man habe sie »unter der Dusche mit einem Kaltwasserstrahl traktiert«, erinnert sich Kukla, oder Zigaretten auf ihrer Haut ausgedrückt. Die Lebensbedingungen waren ohnehin katastrophal: In riesigen Schlafsälen stand Bett an Bett. Toiletten und Duschen waren häufig defekt, die Patientinnen und Patienten mussten sich eine einzige Zahnbürste teilen. Die Strafaktionen endeten zuweilen tödlich. Im Bonner Landeskrankenhaus, schildert die Sozialpädagogin Christa Wirtz-Stützer, wurden Patienten »teilweise in Säcke gesteckt, oben zugeknotet, und wenn dann jemand einkotete oder aus Angst unter sich machte«, dann wurde das »auch rigoros bestraft, mit Abspritzen mit kaltem Wasser«. Einem Patienten versagte unter solcher Folter das Herz. Er starb.

 

Am 20. März strahlte der WDR das Feature aus, das Kukla, Wirtz-Stützer und anderen Zeuginnen und Zeugen, auch Betroffenen, Raum für ihre Erinnerungen gab. Die Berichte lassen erschaudern. Ähnlich kalt muss es Lothar Gothe, Heino Lonnemann und der gesamten Sozialistische Selbsthilfe Köln (SSK) den Rücken heruntergelaufen sein, als sie in den 70ern von den fürchterlichen Zuständen in den rheinischen Psychia­trien erfuhren. Als damals eine 20-jährige Kölnerin in der Psychiatrie Brauweiler plötzlich verstarb, begannen die SSK-Mitglieder zu recherchieren. Es stellte sich heraus: Ärzte hatten ihr eine Überdosis Psychopharmaka verordnet, die die Schwelle zur tödlichen Menge deutlich überschritt. Weitere Nachforschungen in Brauweiler ergaben, dass ein Patient von Pflegern erschlagen wurde, zwei weitere Patienten stürzten bei Fluchtversuchen in den Tod. Dem Klinikleiter wurden, als die Fälle dank der SSK endlich vor Gericht landeten, mildernde Umstände zugebilligt – er war schwer alkoholkrank und manisch-depressiv. Über seinen Stellvertreter berichtete 1981 der Spiegel, fast alle seine Patientinnen und Patienten seien »in geradezu unverständlicher Weise extrem medikamentös überdosiert«. »In Brauweiler ging es zu wie in einem Irrenhaus«, fuhr das Wochenmagazin sarkastisch fort. Gemeint war die Klinikleitung.

 

Als sich die SSK auf die Suche nach den Verantwortlichen begab, da landete sie schnell beim Träger der großen psychiatrischen Landeskrankenhäuser in der Region: beim Landschaftsverband Rheinland (LVR). Und als die Behörde 1978 die Klinik in Brauweiler wegen der skandalösen Zustände schließen musste, legte die SSK nach. »Brauweiler ist nicht ein einzelner Missstand, denn in keinem anderen Landeskrankenhaus ist es anders als dort«, schrieb SSK-Aktivist Lothar Gothe in einem Flugblatt. Der LVR zerrte ihn dafür vor Gericht. In letzter Instanz musste die Justiz jedoch Gothe Recht geben: »Wir konnten die Einschätzung, dass Brauweiler kein Ausrutscher war, mit zahllosen Fakten untermauern«, erinnert sich Gothe heute. Und er weist, wie schon damals, darauf hin, dass die Zustände durchaus mit dem Mann zu tun gehabt haben dürften, der 1954 die Leitung des nach dem Krieg gegründeten LVR übernahm und diesen Posten bis zu seiner Pensionierung 1975 behielt: mit Udo Klausa.

 

Für Klausa hat der LVR noch heute vor allem Lob übrig. Seine »Arbeitsleistung« sei mit einer 80-Stunden-Woche »legendär« gewesen, sein Lebenswerk »erfolgreich«, erfährt man in der offiziellen Biografie auf der LVR-Website. Über Klausa während der Nazizeit heißt es dort, er habe zwar »auf dringendes Anraten eines Freundes« die Mitgliedschaft in NSDAP und SA beantragt, doch sei sein »Verhältnis zu den neuen Machthabern« durchaus »zwiespältig« gewesen. Die Behauptung ist erstaunlich. Denn Klausa wirkte nicht nur von 1940 bis 1942 als Landrat des Kreises »Bendsburg« im okkupierten Polen, wo nach dem deutschen Einmarsch schlimmste Verbrechen begangen wurden. Klausa hatte bereits 1936 die Schrift »Rasse und Wehrrecht« publiziert, die ein gänzlich unzwiespältiges Verhältnis zur NS-Ideologie erkennen lässt. Es ist von »Förderung der rassisch wertvollen Menschen« die Rede und von »Aussonderung der Entarteten«.

 

Klausas Pamphlet wird vom LVR bis heute wohlweislich verschwiegen – allzu unpassend ist es für den langjährigen Direktor einer Behörde, unter deren Klientel die Nazis mit Sicherheit nach »Entarteten« gesucht hätten. Nazis wie Friedrich Panse etwa, der in der zweiten Hälfte der 30er Jahre eine »erbbiologische Bestandsaufnahme« der Rheinprovinz vornahm und 1940 als Gutachter der »Aktion T4« die Ermordung von mindestens 15 Psychiatriepatienten empfahl. Von 1955 bis 1967 leitete Panse die LVR-Klinik in Düsseldorf-Grafenberg. Zuvor hatte er 1953 den Psychiatrie-Lehrstuhl an der Medizinischen Akademie in Düsseldorf erhalten. Die Akademie verlieh übrigens 1964 Udo ­Klausa die Ehrendoktorwürde – wegen seines Engagements für Psychiatrie.

 

»Der LVR muss die NS-Vergangenheit von Klausa endlich aufarbeiten«, fordert Heino Lonnemann, in den 70er Jahren SSK-Mitglied. Sein Mitstreiter Gothe hat im Juni direkt beim LVR nachgefragt. Für die Aufarbeitung unternehme man eine ganze Menge, meint LVR-Fachbereichsleiter Michael van Brederode. Nach der Erstellung einer Studie, die das Schicksal der Heimkinder nach dem Zweiten Weltkrieg untersuchte, soll nun das Historische Institut der Universität Düsseldorf die psychiatrischen LVR-Kliniken in dieser Zeit erforschen. Im Herbst wird der LVR die Wanderausstellung »Graue Busse« in Köln zeigen, die an Deportation und Ermordung von psychisch Kranken durch die Nazis erinnert. Kann man das angemessen tun, ohne die Nachkriegsaktivitäten einstiger Nazis wie Udo Klausa zu thematisieren? Man kann es nicht, meint Gothe. Er hat daher, als der LVR Ende Juni in seinem Kulturzentrum Brauweiler eine, gelinde gesagt, dürftige Ausstellung über die »Rassenhygiene« der Nazis eröffnete, mit einem Flugblatt (»LVR schamlos!«) protestiert.

 

Während der Kampf um die NS-Aufarbeitung beim LVR in die nächste Runde geht, zeichnen sich bereits neue Auseinandersetzungen um die rheinischen Landeskrankenhäuser ab. Sparmaßnahmen führen dazu, dass widerspenstige Patientinnen und Patienten nicht nur weiterhin »fixiert«, also ans Bett gefesselt, sondern auch öfter wieder weggeschlossen werden, berichten Insider. Auch würden zunehmend Psychopharmaka zum »Ruhigstellen« verwendet. »Therapie, die wirklich helfen könnte, wird immer mehr eingeschränkt«, beobachtet Heino Lonnemann. Die großen Verbrechen der Nachkriegs­psychiatrie sind gewiss vorbei. Doch lässt es die Behörde am Deutzer Kennedyufer, die Klausa über Jahrzehnte geprägt hat, offenbar zu, dass manche Erfolge der Psychiatrie-Reform in der Praxis wieder in Frage gestellt werden. Wachsamkeit ist, da sind sich die Kritiker einig, allemal vonnöten. Und beim Bemühen, die Wiederkehr des alten Nachkriegsgeistes zu verhindern, kann es nur helfen, vom großen Tabu, von Klausas Ehrenbüste, den 50er-Jahre-Firnis abzukratzen.