Die andere Rhythmusmaschine

Der Kölner Pianist Philip Zoubek erkundet das Zusammenspiel von Kontrolle und Zufall

Am Anfang stand der Regelbruch. Weil das Ensemble, mit dem der amerikanische Komponist John Cage seine Schlagzeug-Stücke erprobt hatte, nicht in den Aufführungsraum passte, übertrug er seine Komposition kurzerhand auf ein einzelnes Instrument: das Piano. Er klemmte Schrauben, Radiergummis und Nussschalen zwischen die Saiten. Das Klavier hörte sich plötzlich wie ein Gamelanorchester an.

 

Die Klangmanipulationen hatten natürlich Vorläufer, zuallererst in Cages Lehrer Henry Cowell und dem Outsider-Komponisten Conlon Nancarrow, und die wiederum in Eric Satie, Paul Hindemith und Heitor Villa-Lobos. Aber Cage war der Erste, der konsequent Stückanweisungen für präpariertes Klavier schrieb. Zwischen 1940 und 1952 realisierte er über zwanzig Kompositionen und begründete damit ganz nebenbei die Geschichte der Instrumentenverfremdung. Der Regelbruch war der unlautere Eingriff in den Korpus eines quasi sakrosankten Instrumentes, dem wohltemperierten Klavier. Ein Regelbruch, der vor Arnold Schönbergs und Marcel Duchamps General-Interventionen undenkbar gewesen wäre.

 

Der Pianist und Komponist Philip Zoubek hat vor kurzem dieser Geschichte der sonischen Klavierverfremdung ein neues Kapitel hinzugefügt und stellt sich mit seinem Solo-Album »Air« in eine Reihe mit so renommierten Improvisationskünstlern wie Keith Tippett, Irène Schweizer und Martin Theurer. Der aus Österreich stammende und seit 2002 in Köln lebende Zoubek (Jahrgang 1978) ist bekannt für sein energetisches und befreites Spiel, seit über zehn Jahren arbeitet er bereits mit Klavier-Manipulationen und »Aktionen im Inneren des Klaviers«. »Air« ist also Resultat einer langen Erkundung der Möglichkeiten der Veränderung von Tonhöhen und Timbres: Zoubek hat über die Jahre experimentiert, Texturen einstudiert, Strategien entwickelt und sich einen immensen Materialfundus erarbeitet.

 

Die auf »Air« benutzten Präparationen sind aufwendig in der Vorbereitung, die Eigenschaften des Materials, ihre Positionierung und ihre jeweilige Kombination ausschlaggebend für die kleinsten Soundunterschiede. Zoubek benutzt zum Beispiel Metall-, Holz- und Plastikschrauben in allen Stärken und Größen, Gummikeile und Kupferplatten, letztere für Glissandi und stehende Drones. Aber auch Effektgeräte, die für E-Gitarren entwickelt wurden, etwa den von Jimi Hendrix inspirierten E-Bow. Der »elektrische Bogen« bringt die Saiten elektromagnetisch in Schwingung und erzeugt lang anhaltende, gleitende Töne. Einige Abschnitte in den acht Improvisationen nehmen den Charakter von manipulierten E-Gitarren-Sounds an, wie sie etwa bei Sonic Youth zu finden sind. Man hört aber auch weiche Dolce-Klänge wie von einer Celesta, oder Flageolett-Klänge von Streichinstrumenten und Multiphonics, man meint im wilden Wechsel Glockenspiele, Gongs, Harfen, Marimbas und Steeldrums auszumachen. Die Verfremdungseffekte eröffnen dem Spieler eine immense Klangvielfalt und dem Hörer die Historie des Klaviers, sie zeigen die Verwandtschaft zu dessen Vorläufern, etwa Giraffen- und Hammerklavier oder Tack Piano.

 

Für Zoubek ergibt sich seine Arbeit durch eine allgemeine Tendenz der Instrumentenverfremdung in den letzten Jahrzehnten: »Das präparierte Klavier reiht sich in die spieltechnische Tradition der letzten dreißig Jahre: Es wurden unzählige extended techniques entwickelt, die sich in diesem quasi-orchestralen Feld der großen Klangbandbreite bewegen. Eine Trompete kann seitdem wie ein Orkan, eine Bassklarinette oder ein Motor klingen.« Diese historische Entwicklung lässt sich bis Helmut Lachenmanns musique concrète instrumentale verfolgen, das verfremdete Klavier steht an ihrem Anfang. Es fand parallel zum Siegeszug des Moog-Synthesizers Ende der 60er Jahre auch Eingang in die avantgardistische Popmusik: John Cale manipulierte 1966 auf Velvet Undergrounds »All Tomorrow’s Parties« ein Klavier mit Büroklammern, Brian Eno arbeitete auf seinem Album »Another Green World« (1973) mit Klaviermanipulationen und Roger Clark Miller von der Postpunk-Band Mission Of Burma erstmals auf »Trem II« (1979).

 

Regelbruch, Instrumentenverfremdung und Fehler-Ästhetik wurden im 20. Jahrhundert zur Lingua franca der Avantgarde. Und sie begründeten die Populärkultur: Distortion als Urgrund des Rock’n’Roll, die Montage-Technik als Voraussetzung von HipHop und Techno. Die Praktiken des Regelbruchs und des Zufalls in der Nachfolge Cages bilden den Innovationsmotor der progressiven Kultur.

 

Aber erst mit dem Gegenpol des Zufalls, der Kontrolle, entsteht das genuine Spannungsfeld, in dem sich Zoubek bewegt. »Für mich brennt es erst dann«, führt er aus, »wenn man in der Grauzone von Kontrolle und Neuentdeckung spielt. Ich glaube, dass es eine ganze Zeit braucht, bis man es schafft, in diesem Risikofeld eine Stärke zu finden, die es einem erlaubt, zwischen diesen Polen quasi zu balancieren ohne abzustürzen«. Zoubek meistert diese Balance und macht das Klavier zum Klangmultiple.

 

Als Zwitter zwischen Schlag- und Saiteninstrument erscheint das Klavier hier als eine andere Rhythmusmaschine, als zeitgemäßes Steuerungsinstrument. Cage wollte das manipulierte Klavier zu Beginn der Computerära als Übergangslösung zum elektronischen Instrument und dessen grenzenlosen Möglichkeiten der Klangerzeugung verstanden wissen. Durch den improvisatorischen Zugriff Zoubeks wird das präparierte Klavier zu einem zeitlosen Instrument, das — obwohl auf einem Regelbruch fußend — Musik als Kontinuum in Zeit und Raum verstehen lässt.