Radikal subjektiv: Tom Mercier als Yoav

Synonymes

Nadav Lapids elektrisierendes Drama ist ein Gewinn für das Kino

Abscheulich, abstoßend, widerlich, jämmerlich, schmutzig… Herablassende Adjektive über sein Geburtsland Israel skandierend läuft Yoav (Tom Mercier) durch Paris. Er ist ein Getriebener, ein Heimatloser. Der junge Mann ist nach dem Militärdienst ins winterliche Frankreich geflohen, und will seine Muttersprache nicht mehr in den Mund nehmen, selbst bei den raren Telefonaten mit seiner Familie nicht. In der Grande Nation glaubt er Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu finden, all die Werte, die seine alte Heimat in Yoavs Augen nicht hat. In der leerstehenden Wohnung angekommen, wird ihm alles Hab und Gut gestohlen. Dem gutgebauten Hünen bleibt nur noch der nackte Körper, der in der eiskalten Badewanne fast erfriert, als wolle ihn Yaov auslöschen und damit seine Herkunft. Caroline (Louise Chevilotte) und Emile (Quentin Dolmaire), das junge bourgeoise Nachbarpaar, rettet ihn, geben ihm Kleidung, Geld. Beide fühlen sich von dem merkwürdigen Israeli angezogen, der reiche Fabrikantensohn und Möchtegernschriftsteller Emilie von Yoavs barocker Sprache, Caroline von dessen brodelnd maskuliner Energie. Für die beiden gelangweilten Schnöselkinder ist der Traumatisierte exotisches Objekt der Begierde. Yoav haust derweil in einer heruntergekommenen Wohnung, ist jeden Tag das gleiche Spargericht und versucht sich als Aktmodell und Sicherheitsmann der israelischen Botschaft. Beides scheitert.

Jede Figur, jede Szene im dritten Spielfilm des israelischen Regisseurs Nadav Lapid (»Policeman«, »Ich habe ein Gedicht«) ist eine Metapher, auch das erratische Verhalten des innerlich zerrissenen Protagonisten, wenn er etwa im Integrationskurs voller Eifer den Text der blutrünstigen »Marseillaise« intoniert, ebenso wie dessen jüdischer Kollege, der in der Metro antisemitische Reaktionen zu provozieren versucht. Lapid liefert keine einfachen Antworten. Vieles bleibt offen, wenn er den orientierungslosen Yoav mit entfesselter Kamera durch die Stadt begleitet, sich dabei fast im Exzess verliert, um dann umso härter mit der Realität zusammenzustoßen. Flucht als Mittel zur inneren Konfliktlösung bleibt letztlich Illusion. Der erste israelische Goldene Bär in 70 Jahren Berlinale ist eine komplexe Allegorie über Identitätssuche im 21. Jahrhundert und scharfe Kritik auf Nationalismus, zugleich radikal subjektiv und allgemeingültig, eine physische und verbale Aggression. Ein zwingender Film, wagemutig und voll bitterer Komik, der herausfordert und elektrisiert. Ein Gewinn für das Kino.

Synonymes (dto) F/ISR/D 2019, R: Nadav Lapid,
D: Tom Mercier, Louise Chevillotte, Quentin Dolmaire, 123 Min. Start: 5.9.