Das Gegenteil von pflegeleicht: Helena Zengel

Systemsprenger

Nora Fingscheidt erweitert das Kino um eine schwer erziehbare Berserkerin im XS-Format

Die Kindheit als Hort der Sicherheit und Sorglosigkeit? Endlose Sommer, die von keiner Wolke getrübt werden? Die Zeit der unbedarften Entdeckung der Welt, in der freie Geister die Welt von Morgen erträumen? Schön wär‘s. Nicht einmal in der Welt des Kinos ist diese Schwärmerei selbstverständlich. An verlorenen Kindern im freien Fall durch die Maschen schützender Institutionen war die Filmgeschichte noch nie arm. Sei es Antoine in Truffauts »Sie küssten und sie schlugen ihn«, der Titelheld aus Hark Bohms »Moritz, lieber Moritz« oder der Problemteen in Xavier Dolans »Mommy«: lauter schwierige Fälle, wohin man blickt. Gegen die neunjährige Benni (naturgewaltig: Helena Zengel), die titelgebende Berserkerin im XS-Format aus Nora Fingscheidts diesjährigem Berlinale-Wettbewerb, wirken sie allesamt pflegeleicht. Volle Deckung!

Wie viele Pflegefamilien, Wohngruppen, Sonderschulen und guten Willen die in früher Kindheit traumatisierte und von einer überforderten Mutter in professionelle Obhut übergebene Benni schon verschlissen hat, weiß selbst die engagierte, doch entkräftete Frau Bafané vom Jugendamt (wie immer gut: Gabriela Maria Schmeide) nicht mehr zu beziffern. Auch der zähe Aggressions-Trainer Micha (beherzt: Albrecht Schuch) stößt mit seinen erlebnispädagogischen Ansätzen an seine Grenze. Auf jeden noch so zaghaften Schritt voran folgen drei Rückfälle und die bittere Einsicht, dass Benni, aller Anhänglichkeit und Liebenswürdigkeit zum Trotz, ihren destruktiven Impulsen hilflos ausgeliefert ist und eine Gefahr für sich und ihre Umwelt darstellt. Simple Lösungsvorschläge (»Das Mädchen muss an die frische Luft«, »Im gesunden Körper steckt ein gesunder Geist«, »All you need ist Love«) werden ganz nebenbei als hohle Floskeln entlarvt.

Wo das alles enden soll, weiß niemand. Und egal wie groß das Herz und Engagement überforderter Pädagogen auch sein mag, verschweigt Regisseurin Fingscheidt nicht, dass Kräfte und Mittel stets begrenzt sind. Der unbedingten Sympathie und Loyalität, die der Film seiner problematischen Heldin schenkt sei Dank, gerät »Systemsprenger« dennoch nie zum defätistischen Trauerspiel. Es bleibt die Hoffnung, dass das System institutionalisierter Betreuung schwerer Fälle nach jedem verheerenden Kontakt mit explosiven Herausforderungen wie Benni um eine weitere Einsicht bereichert statt zerstört wird. Dass es leicht wird, hat niemand gesagt. Dass es die Mühe wert ist, macht »Systemsprenger« in jeder Minute deutlich.

Systemsprenger, D 2019, R: Nora Fingscheidt,
D: Helena Zengel, Albrecht Schuch, Gabriela Maria Schmeide, 118 Min. Start: 19.9.