Fernmündliche Hypnosen beenden Gekritzel

Materialien zur Meinungsbildung /// Folge 211

Klingelingeling und finito. Sobald das Telefon schrillt, ist das der Abpfiff jeder Unterhaltung, und wir werden genötigt, so zu tun, als störe es uns nicht, dass sich da jemand vordrängelt und wir zuhören müssen. Passivtelefonieren ist so unangenehm wie Passivrauchen: Wir kriegen zu viel von dem ab, mit dem sich andere ruinieren. Sollten wir dann tun, als hörten wir gar hin? Vorgeben, auch wir hätten ausgerechnet jetzt Besseres tun? Liegestütze machen? Fußnägel feilen? Auf Klo gehen? Bloß, damit wir uns nicht abserviert vorkommen?

Da sitzen Gesine Stabroth und ich also bei Trinkhalle Hirmsel, dumdidum... Wir trinken Flaschenbier, und zwar sehr lauwarm. »Kühlschrank-Strom sparen fürs Klima«, so Herr Hirmsel kess. Pause. »Jedenfalls isset auch besser für’n Magen.«

So geht’s zu heute: Ich kann sogar meine Flugangst zur Klimasensibilität veredeln, so wie Herr Hirmsel seine Faulheit, Bierflaschen rechtzeitig nachzulegen.

Bevor ich zu meinem Plädoyer pro Bierkühlung und kontra Scharlatanerie à la Hirmsel an­setzen kann, bimmelt Gesine Stabroths Telefon. »Ach, nee, der Micky! Jetzt bin ich aber gespannt!« — Und ich erst! Wie soll ich da weghören? Wer war noch mal dieser »Micky«? Indien-Urlaub 2015? Fitness-Studio? Ganz sicher: ein böser Hypnotiseur! Jedenfalls lässt er fernmündlich Gesine Stabroth sinnfrei durch Trinkhalle Hirmsel tapern. Warum rennen eigentlich immer alle beim Telefonieren herum wie Rockgitarristen, die über die Bühne hasten, als suchten sie panisch ihren Haustürschlüssel oder Ostereier?

Früher hatten Telefone Kabel, die in der nächsten Wand endeten. Man war wie angeleint. Das hatte eine zivilisierende Funktion. Es gab Telefontischchen, an denen man Platz nahm. Da saß man dann still, stützte den Ellbogen auf Brokatdeckchen und lauschte oder sprach. Das war noch Kommunikation, die den Namen verdient. Ein Telefonat war immer dringend, nie Zeitvertreib. Manchmal sitze ich auf Oma Porz’ verwaistem Telefonbänkchen und denke: Jeder Fortschritt zeitigt unvorhersehbare Verluste. Mit der Mobiltelefonie ist uns noch mehr als nur Anstand und Diskretion abhanden gekommen: die literarische Form der Telefonkritzelei. Denn hinterher waren die Notizzettel im Notizzettelkästchen auf dem Brokatdeckchen immer reich bekritzelt, eine verstörende écriture automatique, Notate im Stil avancierter Rauschgift-Lyrik. Wer jedoch, wie heute üblich, beim Telefonieren herumläuft, macht keine krakeligen Notizen mehr. Es ist bloß noch Schreiten, Kakeln, Witzeln. Manche sagen, Gehen rege das Denken an. Im Altertum habe man daher per pedes philosophiert, man schritt durch Gebäude, die später der philosophischen Schule den Namen gaben. Aber führt die Traditionslinie wirklich von der Säulenhalle, stoa (στοά), über die Wandelhalle, peripatos (περίπατος), zur Trinkhalle Hirmsel (περιπτερο ιρμσελ)?

Man schritt doch damals wohl mit leibhaftigen Gesprächspartnern herum und nicht bloß mit einem Telefon am Ohr. Das senkt das Niveau erheblich.

Gesine Stabroth sagt vor allem »Echt jetzt?!« und »Nee, ne?!«. Das inhaltlich Interessantere habe ich notiert. Was bleibt mir übrig, wenn ich zum Zuhören verdonnert werde, weil dieser Micky mit seinem Blabla Gesine Stabroth durch Trinkhalle Hirmsel voltigiert? Ich rette das Genre der Telefonkritzelei! Krakeln statt Kakeln! Kritzeln statt Witzeln! Schreiben statt Schreiten! Mobiltelefone sollten nur noch mit Telefontischchen verkauft werden. Oder mit den Transkriptionen der Micky-Telefonate — quasi als Raucher-Schockbild fürs Handy. Gewissermaßen wäre auch das klimasensibel und besser für meinen Magen.