Den Erwartungshorizont verschieben: Elisabeth Coudoux

Ein Haus mit 100 Zimmern

Die reiheM hat sich in den vergangenen zehn Jahren als Ort für experimentelle und unkonventio­nelle Musik in Köln etabliert. Jetzt feiert sie Jubiläum

Was von der reiheM seit zehn Jahren veranstaltet wird, hat Ereignischarakter. Einem Ereignis wohnt eine Dynamik inne, durch die eine Zustandsveränderung ausgelöst werden kann: im Ergebnis offen, inklusive dem Risiko des Scheiterns, aber auch dem immer wieder neu gegebenen Versprechen, dass »etwas passiert«. Das heißt auch, dass derjenige, der an einem solchen Ereignis teilhat, anders aus diesem herausgehen kann, als er hineingegangen ist. Mögliche Transformationsstufen beim Besuch einer der gut 100 Veranstaltungen der reiheM waren Verblüffung, trotziges Achselzucken, tiefes Glückserleben und konstruktive Ratlosigkeit. Am Ende eines Konzerts stand dann mindestens die Erkenntnis, dass der eigene Erwartungshorizont wieder einmal verschoben worden war.

Die in ihrer Beständigkeit herausragende Veranstaltungsreihe rückt dabei das Randständige in den Mittelpunkt. Die präsentierte Musik entstammt aber selten selbst der Peripherie, sondern entsteht in Metropolen wie Brüssel, Chicago, Lagos, Köln natürlich, New York, Paris, Mailand oder London (dem London, das in Ontario/Kanada liegt, Heimat der Nihilist Spasm Band). Die quietistische Klaviermusik eines John Tilbury, die vigilante Maschinistenfolklore eines Asa-Chang oder die instruktive Installationskunst einer Christina Kubisch ist superurban. Sie zieht ihre Inspiration zwar aus den Rändern, übersetzt das Fremde aber in Eigenes und macht es so verstehbar. Dass das kein reibungsarmer Aneignungs-Prozess ist, versteht sich. Und auch die Rezipienten — konkret die Besucherinnen und Besucher der reiheM — tasten durch diese Ereignismusik wie durch ein riesiges Haus mit immer neuen Türen, die sich in immer neue Zimmer öffnen.

Von seltsam vertraut wirkenden Imaginationsräumen etwa, wachgerufen durch letal ratternde Stromgeneratoren (Emeka Ogboh) oder pränatal wummernde Feedbackschleifen (Eliane Radigue), konnte man in beklemmende ­Kellergeschosse geraten, in denen Männer mit Höhlenstirnlampe Krachkaskaden lostraten (G*Park) oder Tiroler Volksmusik mit Power Electronics bondagierten (Club Moral) — um dann plötzlich in luftige Dachaustritte zu treten und beglückt tänzelndem Postrock (David Grubbs) oder lust-spinnerter Minimal Music (Charlemagne Palestine) beizuwohnen.

Ein Haus mit 100 Zimmern mag man sich noch vorstellen, ein Grand Hotel vielleicht; aber wo mag noch angebaut werden, für all die zukünftigen konzertant inszenierten Wunderräume?

In Köln wäre so eine Superarchitektur vermutlich einsturzgefährdet, und so bespielt die reiheM traditionell verschiedene Häuser. Loft, Stadtgarten, Alte Feuerwache und Kunst-Station Sankt Peter ergeben denn auch weniger ein imaginäres Haus, sondern sind schlicht ein etabliertes Spielstätten-Netzwerk für mal mehr, mal weniger avantgardistische Musik. Ganz plan darf man entsprechend auch für die reiheM zur räumlich potentiell unbegrenzten Netz-Metapher greifen. Ein Netz- oder Flechtwerk, das immer weiter über- wie unterirdische Verbindungen von Musiken, Menschen und Orten herstellt.

Dass 2009 eine Hommage an John Cage (1912-1992) den ersten Knotenpunkt dieses Netzes bildet, macht Metasinn. Der Nicht-Komponist mit dem entspannten Dauergrinsen weilte oft in der Domstadt und gilt als Oheim der Outsider-Composer. Wenn sich Peter Behrendsen nun zum Jahresende mit hans w koch an ein modifiziertes Schachbrett setzt (13.12., Kölnischer Kunstverein), knüpft man schlauerweise genau dort wieder an. Und gibt dabei der Frage: »Was ist Musik?« neues Futter.

Wie immer vorläufige Antworten geben derweil zum Jubiläum am 2.10. neben dem großen britischen Autorenmusiker David Toop (London Musicians Collective, Flying Lizards), Anthony Moore und Peter Blegvad (beide u.a. Slapp Happy) und der US-koreanischen Ausnahmecellistin Okkyung Lee, die nicht minder bestaunenswerten Kölner Musiker und Komponisten Echo Ho Tina Tonagel, Simon Rummel und Elisabeth Coudoux. Dass man abseits der obligatorischen angloamerikanischen Avantgarde auch immer der hiesigen Szene eine Bühne bot und bietet, ist ein weiterer Verdienst der Reihe.

Man darf und muss den Köpfen hinter der reiheM für ihre famose Programm-Arbeit danken: Neben genanntem hans w koch und a-Musiks Frank Dommert sind das Dirk Specht und Volker Zander, bis 2015 Sven Hahne und Till Kniola. Ohne die reiheM hätte die Stadt ihre eigene Geschichte als Avantgarde-Metropole vielleicht schon vergessen.

Stadtrevue präsentiert:

Konzert: Mi 2.10., Stadtgarten, ab 19 Uhr
Mit: Okkyung Lee, Anthony Moore & Peter Blegvad, David Toop, Tonagel/ Rummel/ Coudoux, Echo Ho und DJ Zipo