Zeugnisse des Kriegs: »Heimat ist ein Raum aus Zeit«

»Heimat ist ein Raum aus Zeit«

 

Thomas Heise verbindet Familien- mit Zeitgeschichte

mmer wieder hat sich Thomas Heise in seinen Filmen mit der jüngeren deutschen Geschichte beschäftigt. Manchmal kamen dabei auch Teile seiner eigenen Herkunftsfamilie ins Spiel. Jetzt bringt Heise beides ganz explizit zusammen in einem großen Film, der die Familiengeschichte mit den Umbrüchen des letzten Jahrhunderts zusammenführt. Lange hat dieses Projekt in ihm und er daran gearbeitet. Diese extensive Zeit der Entwicklung, die Gründlichkeit und die Erfahrungen von vielen Jahrzehnten dokumentarischen Arbeitens zeichnen das Ergebnis aus.

Das Material dazu kommt aus dem beim Filmemacher in Kisten angesammelten Familienarchiv und reicht von einem (wie alle Textdokumente von Heise aus dem Off selbst vorgelesenen) Schulaufsatz des Großvaters Wilhelm Heise von 1912 über viele Briefe, Tagebuchnotizen und Fotos bis zu einem auf Tonband mitgeschnittenen Gespräch zwischen seinem Vater, dem Berliner Philosophen Wolfgang Heise, mit Heiner Müller über Kunst und Politik. Zu diesen Dokumenten montieren der Regisseur und Cutter Chris Wright Schwarz-Weiß-Bilder von Orten, an denen sich Geschichte angereichert hat. Und, immer ­wieder, Züge und Bahnhöfe.

Der einzige Einsatz von Dokumenten aus institutionellen Archiven zeigt Heise als klugen Minimalisten der Montage. Es geht um die Zeit, als die jüdischen Großeltern seiner Mutter samt Familie in Wien voller Angst auf die Deportation warten. Heise nimmt sich für diese Episode dreißig Minuten Zeit und lässt zu dem verlesenen Briefwechsel zwischen der nach Berlin verheirateten Tochter Edith und ihren Eltern in Österreich die langen Deportationslisten der entsprechenden Tage vom Herbst/Winter 1941/42 im Bild vorbeiziehen. So werden die ganz persönlichen Schicksale der Familie kollektiv gerahmt.

Als sozialistische Dissidenten hatten Heises Eltern engen Kontakt zu anderen dissidenten Kulturschaffenden. So ist der Film in seinen späteren Kapiteln auch eine Hommage an die früh durch Suizid verstorbene Inge und ihren Ehemann Heiner Müller — und an Christa Wolf, die schon im Januar 1991 in einem Brief an Rosemarie Heise eine Weltordnung heraufziehen sah, bei der »diese ganze liebe Erde zugrunde geht«. Heiner Müller äußert sich in einem Essay aus dem Jahr 1992 wuchtig zum Rassismus in der ehemaligen DDR und sieht die Gewaltlosigkeit der »friedlichen Revolution« als Ursache für spätere Gewalt und »das Deutschsein« als »letzte Insel im Meer der kapitalistischen Überfremdung«.

Heimat ist ein Raum aus Zeit (dto) D/A 2019, R: Thomas Heise, 218 Min.