Victoria Bell, »Propeller für D«, 2001, Eichenholz und Stahl

Die Beschwörung des Geistes

»Aufbrüche«, die neue Jahresausstellung im Kolumba, ist anspielungsreicher denn je

Man muss den Blick heben: An der Wand in Raum 6 im ersten Obergeschoss des Kolumba Museums hängen die Holzschnitte aus der Mappe »Lebendige«. Aber sie hängen nicht in Kopfhöhe, man muss eben aufblicken. Die Lebendigen sind alle tot, ermordet: Karl Liebknecht, Jean Jaurés, Rosa Luxemburg, Kurt Eisner, Eugen Leviné — sozialistische Politiker und Revolutionäre, die ihr Engagement mit ihrem Leben bezahlen musste. Die Mappe wurde von jungen rheinischen Künstlern, darunter Franz Wilhelm Seiwert und Angelika Hoerle, gestaltet und herausgegeben — 1919, mitten im deutschen Bürgerkrieg um Revolution und Konterrevolution. Seiwert und Hoerle hatten sich rasant politisiert und sich bereits von Dada, das ihnen zu bürgerlichen war (!), distanziert.

Im Kolumba wird aber eine andere Geschichte erzählt als die einer politischen Radikalisierung: Der Blick von unten auf die »Lebendigen« ist einer auf Ikonen, die Anrufung der Toten als lebendig hat etwas transzendentales, und der direkte Bezug dieser Holzschnitte sind frühere Arbeiten von Seiwert, die von einem tiefen spirituell-religiösen Empfinden sprechen. Conrad Felixmüller, auch der gehört in diesen Zusammenhang, zeichnet Luxemburg und Liebknecht gar als Engel. Der — gescheiterte, niedergetretene — politische Aufbruch von 1919 war grundiert von Hoffnungen auf Erlösung und Erweckung, die zum utopischen Gehalt der christlichen Religion gehören — einer Rückbindung an alte, uralte Zeiten.

Das ist natürlich das Kolumba-Thema: Die Konfrontation moderner und zeitgenössischer (säkularer!) Kunst mit religiösen Motiven, mit Verweisen auf die Kunstgeschichte des Christentums. Lustvoll provokant spielen Epochengrenzen und kunstgeschichtliche Einteilungen keine Rolle. Das Museum ist souverän genug, die Konfrontation niemals eindeutig (und also parteiisch) zu arrangieren: Man kann die Arbeiten der radikalen Rheinländer als Säkularisierung christlicher Energien verstehen, als Aufladung kommunistischer Agitation mit christlichen Motiven oder aber als Aufhebung der Religion in ein universales Band menschlicher Solidarität. Die Jahresausstellung »1919 49 69ff. — Aufbrüche« lässt das offen, gibt die Frage an uns zurück und fördert damit die Erkenntnislust, Bezüge herzustellen, nach utopischen Strömen in den Bildern und Installationen zu suchen, Brüche zu entdecken.

Zum Beispiel der wuchtige Holz-Propeller von Victoria Bell, der einen zu Beginn im Foyer begrüßt: Er würde eine Unwucht produzieren, die jedes Gefährt, das mit ihm ausgestattet ist, zerstören würde. Ist das schon die Selbstkritik der Ausstellung? Dass jeder Aufbruch destruktive Kräfte mit sich bringt, die ihn zu verschlingen drohen? Bells Propeller ist auch eine Anspielung auf ein künstlerisches Minimalprogramm von Marcel Duchamp, der 1912 die Malerei für beendet erklärte und den Propeller als Inbegriff von Modernität feierte. Der zwei Jahre später ausgebrochene Krieg war auch der erste Luftkrieg, die Propellerflugzeuge lieferten sich mörderische Schlachten.

Oder das zweite Obergeschoss, wo es zunächst um »1949« geht — ein ganz anderer Aufbruch, gequält, ärmlich, zerrissen, existenzialistisch verstockt. Gerhard Altenbourgs auf Packpapier regelrecht zerrissener »Ecce Homo« ist das Schlüsselwerk in diesem Raum. Keine »Lebendigen« mehr. Zum Kontrast gibt es ein »Sitzmöbel für die Wandelhalle des Ersten Deutschen Bundestags« von Hans Schwippert, im Prinzip nüchtern-schlicht, aber eine Spur zu klobig, auch verschnörkelt — kein unbefangenes Design. Das Begleitheft zur Ausstellung bringt zu diesem Stück ein sarkastisches Zitat des Schriftstellers Wolfgang Koeppen über die Machtlosigkeit des unabhängigen Geistes in den feisten Jahren des Wiederaufbaus.

Aber der Geist wurde beschworen — der religiöse: Karl Hugo Schmölz’ Fotoserie »Prozession zum Kölner Domjubiläum« von 1948 demonstriert das Bedürfnis nach »Remythologisierung der Stadt«, wie es im Begleitheft heißt. Kein Aufbruch des Geistes, wie nach 1919, sondern seine Rückbindung an ein Heiliges Köln, das, davon zeugt die Trümmerlandschaft, durch die sich die Prozession schlängeln musste, untergegangen war. Von dieser Arbeit kann man zur heiligen Armut eines Michel Buthe springen, dessen Installation »Die Heiligen Drei Könige« (1989) aus maximal wertlosen Materialen besteht und die unverschämt charmant mit der großen Filzstiftarbeit »Ain Labirint« von Frederic Kaul harmoniert — einem Kindergartenbild von 2017.

Man kann unzählige Bezüge herstellen, es ist wohl die bislang dichteste und anspielungsreichste Jahresausstellung des Kolumba, die zudem viel fremdes und autonomes Material bietet — Ausstellungen in der Ausstellung. Etwa die Klang-Architekturen von Bernhard Leitner (die wir paradoxerweise nicht hören, sondern sehen) im Nordturm und das witzige, verspielte »Klaus-Peter Schnüttger-Webs Museum« im Ostkabinett, das ein Feuerwerk an Kunst-Fakes abbrennt. Aber auch dieser mächtige Findling wird, wenn man so will, gerahmt: Einen Raum weiter, im Ostturm, hängen zwei gemalte USA-Parodien des großen, bösen Blasphemikers Blalla W. Hallmann (1941–1997). Ist das jetzt Vereinnahmung, dass sie im »Kunstmuseum des Erzbistums Köln« hängen? Das Lachen bleibt einem im Halse stecken. Gut so.

»1919 49 69ff. — Aufbrüche«, Kolumba, Mi–Mo 12–17 Uhr, Di geschlossen,
bis 17.8.2020; Veranstaltungsprogramm: kolumba.de