Intim, privat, aber im Klang immer präsent: »The National«

Ich bin meine Mutter

»The National« arbeiten am Indierock-Gesamtkunstwerk

Im April dieses Jahres spielen The National zwei Konzerte in Paris. Bevor es am Sonntag standesgemäß ins Olympia geht, präsentiert die Band am Vorabend ihr neues, inzwischen achtes Studio-Album in einem kleinen Club unweit des Place de la Bastille. Um die komplexen Arrangements von »I Am Easy To Find« live umzusetzen, gesellen sich zur fünfköpfigen Band ein vierköpfiges Kammerorchester sowie drei Sängerinnen.

Trotz der Enge und Hitze des Clubs ist die Stimmung auf der Bühne und im Publikum gedämpft, dabei ist Sänger Matt Berninger für seine exaltierten Bühnenshows bekannt. In der Mitte des Konzerts, bei dem er fast eine Nebenrolle zu spielen scheint, wendet sich der 48-jährige Berninger an das Publikum: Sie hätten überlegt, ob sie überhaupt auftreten sollen. So erfahre ich, was die meisten längst wissen: Notre-Dame brennt, und niemand kann zu diesem Zeitpunkt sagen, was genau passiert ist, ob es ein Anschlag war, Menschen zu Schaden gekommen sind.

Dann geht es weiter mit »Light Years«, der ersten Single-Auskopplung. Ein Song, dessen melancholische und erzählerische Wucht von nun an für immer durch zwei »Filme« unterbaut wird: Die ikonischen Brandaufnahmen, die spät in der Nacht über den Hotelfernseher in Dauerschleife flimmern, und natürlich durch das eigentliche Video zum Song. Wobei Video nicht das richtige Wort ist: Es sind Ausschnitte aus einem 26-minütigen Kurzfilm, den der Oscar-nominierte Regisseur Mike Mills ausgehend von der Musik und den Texten der Band gedreht hat. Im Mittelpunkt des Films steht Hollywood-Star Alicia Vikander, ihre Rolle: Die Lebens­ge­schich­te einer Frau — von der Geburt bis zum Tod. Ohne Maske oder Computereffekte. Wir sehen sie als Kind, Teenager, Studentin, Ehefrau, Mutter, Witwe … Vikander bleibt immer gleich alt — nur die Menschen um sie herum verändern sich.

Der Film von Mike Mills und das Album »I Am Easy To Find« sind eng miteinander verzahnt, ­Fil­memacher und Band haben sich gegenseitig inspiriert. Es ist ein Al­bum, mit dem sich die Band von sich selbst entfernt. Fast 50 Musiker und MusikerInnen waren am Ent­ste­hen der Platte beteiligt, in vielen Stücken hat Sänger Matt Berninger seinen Part an Sängerin wie die er­wähnte Gail Ann Dorsey oder Sharon Van Etten, selbst solo sehr erfolgreich, abgeben.

64 Minuten voller Paradoxien: intim, privat, aber im Sound Cinemascope. Geschichten aus weib­licher Perspektive, auch wenn die Texte allesamt von Berninger ­stammen. Großartige Melodien und Hooklines, aus denen selten klassisch aufgebaute Songs ent­stehen. Es ist ein stetes Anlauf­nehmen, Stoppen, Abdrehen, Suchen, sich Verlieren. Es ist ein Album, dass sich die Band im 20. Jahr ihres Bestehens gegönnt hat, ohne Druck, ohne Masterplan und das an Meisterwerke wie »The Boxer«, »Trouble Will Find Me« oder »Sleep Well Beast« he­ranreicht.

Seit 2007 liegen immer etwa vier Jahre zwischen euren Alben. »I Am Easy To Find« ist jetzt in weniger als zwei Jahre nach »Sleep Well Beast« erschienen, mit dem ihr Nr. 1 in England und Nr. 2 in den USA wart.

Matt Berninger: Als wir mit dem letzten Album fertig waren, kurz vor der Tour, haben wir eine Mail von Mike erhalten, ob wir nicht etwas zusammen machen wollen. Ich bin ein großer Fan von ihm.

Aaron Dycer: Wir hatten überhaupt keine Lust, uns um irgendetwas Gedanken zu machen, und da hat ihm Matt einfach einen gigantischen Ordner hochgeladen. Aufgenommene Songskizzen in verschiedenen Stadien, Texte, Sachen, die vom letzten Album übrig waren.

Berninger: Er war, glaube ich, ziemlich überwältigt, als er das alles vor sich hatte. Ich habe gesagt: »Mach damit, was du willst, vielleicht ein Video aus einem der unfertigen Songs … was auch immer. Spiel einfach damit rum.«

Wie ging es dann weiter?

Dycer: Er hat angefangen auf Grundlage des Materials einen Film zu entwickeln, und er hat Alicia Vikander ins Boot geholt, da sie ohnehin mal etwas zusammen machen wollten.

Berninger: … und das hat uns wiederum angestachelt, die Bausteine, die er verwenden wollte, zu richtigen Songs auszu­arbeiten. Aaron und Bryan haben neue Musik geschrieben, ich habe mir Gedanken über Texte gemacht. Es entstand plötzlich eine Vorstellung, wie so ein neues Album aussehen könnte, auch wenn wir eigentlich gar keins geplant hatten. Irgendwie wollten wir uns natürlich auch gegenseitig beeindrucken! Mike uns, wir Mike — und wir uns dann in der Band auch untereinander.

Dycer: Normalerweise basteln wir endlos an unseren Platten rum, können nie aufhören. Hier war es anders, wir wollten einfach sehen, was rauskommt. Wir konnten viel schneller loslassen.

Das Album behandelt die ganz ­großen Themen: Identität, Herkunft, Vergänglichkeit, Tod. Interessant, dass so etwas Intimes, Eindringliches aus so einem offenen Arbeits-Prozess heraus entsteht.

Berninger: Ja, seltsam, aber das waren Themen, die gerade auch Mike bewegt haben. Er hat zu uns gesagt, seine Kunst würde oft als prätentiös verstanden. »Dabei ist es doch so: All die Kunst, die ich wirklich liebe, ist prätentiös.«

Dycer: Wichtig ist, prätentiös nicht als etwas Angeberisches, Anmaßen­des zu begreifen.

Berninger: Auch uns hat man oft als prätentiöse Band bezeichnet, als melodramatisch. Aber genau darum geht es ja: Meine Gefühle als Mensch, als Vater, der unsicher ist, der in düstere Stimmungen versinkt, das ist Teil unserer Musik.

Um den Inhalten des Films und der Song-Texte gerecht zu werden, tritt Matt als Sänger auf dem Album deutlich in den Hintergrund, oft singst du im Duett, zum Teil nur eine Strophe oder verschwindest in manchen Songs ganz.

Dycer: Stimmt, dabei ist seine Stimme total prägend für unseren Sound und sicher auch das, was die Fans hören wollen. Also, ganz am Ende, als das Album fast fertig war und wir uns schon wieder über die ganze Welt verstreut hatten (einige Bandmitglieder leben in Europa, Anm. des Autors), habe ich ihm eine SMS geschickt: »Hey Matt, meinst du, du bist präsent genug auf dem Album?« Und er hat geantwortet: »Ja, ich habe genug von mir gehört!« Damit war das Thema durch.

Berninger: In Mikes Film geht es um Identität, eigentlich um seine eigene Geschichte, doch eine Frau spielt die Hauptrolle. Aber auch Alicia macht einen Film über sich selbst und das, was sie bewegt. Und so geht es weiter: Wer sind wir, wie wurden wir, was wir sind — ich bin auch meine Mutter, die Stimmen in den Songs sind irgendwie auch die Stimmen meiner Mutter, meiner Tochter, meiner Frau, die wiederum für die Platte erstmals eigene Songs geschrieben hat. Ein riesiger Kosmos …

Dycer: Es ist einfach keine typische The-National-Platte. Wir brauchten diese unzähligen Stimmen und Perspektiven. Und wir haben dem Zufall ganz viel Raum gegeben, es war nie klar, wer wann was singt.

Berninger: Es geht auf diesem Album um unsere Ängste, Unsicherheiten, um unsere Seele: Wir allen wollen geliebt werden, verstanden, wir wollen, dass man uns zuhört. Wir Menschen wollen in vielem alle dasselbe trotz all dem Wahnsinn, der uns täglich umgibt.

Tonträger: »I Am Easy To Find« ist auf 4AD / Beggars Group erschienen.

Film: »I Am Easy To Find« ist problemlos auf Youtube oder Vimeo zu finden.