Kühle, grausame »GoodFellas«: Joe Pesci und Robert De Niro

»The Irishman«

Martin Scorsese erzählt von der Verflechtung von Gewerkschaften und Mafia in den USA

Auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges erkannte Frank Sheeran, dass er Menschen töten konnte, sowohl wutentbrannt als auch kaltblütig. Das Leiden anderer bedeutete dem LKW-Fahrer und Kleinkriminellen nichts. Diese absolute Gefühllosigkeit, verbunden mit einem ausgeprägten Willen zum Gehorsam, sorgte dafür, dass Sheeran in den 50er und 60er Jahren still und sicher aufstieg, zunächst als Gefolgsmann von Rosario »Russell« Bufalino, einer Schlüsselfigur des organisierten Verbrechens in Nordost-Pennsyl­vania, dann auch von James Riddle Hoffa, dem Führer der Transportarbeitergewerkschaft. In den beiden immer enger miteinander verbundenen Welten von Malochern und Gangstern war er Büttel und Bezirksverbandsvorsteher.

Für besonders wichtig hielt ihn jedoch in den Strafverfolgungsbehörden niemand. Umso größer war die Überraschung, als 2004 Charles Brandts »I Heard You Paint Houses« erschien, eine auf Interviews basierende Biographie Sheerans, in der er behauptet, mehr als zwei Dutzend Morde begangen zu haben, darunter den an Hoffa im Jahre 1975. Das Buch ist bis heute umstritten: Zum Start von Martin Scorseses Adaption »The Irishman« sind erneut mehrere Texte erschienen, in welchen die Glaubwürdigkeit Sheerans in Frage gestellt wird.

Sheeran, dargestellt von Robert De Niro, ist nicht der erste unzuverlässige Selbstdarsteller in Scorseses Werk — Jordan Belfort in »The Wolf of Wall Street« (2013) ist zum Beispiel ebenfalls nicht zu trauen, ebenso Bob Dylan in »Rolling Thunder Revue« (2019), um nur die beiden aktuellsten Beispiele zu nennen. Allerdings: In den beiden letztgenannten macht Scorsese spielerisch klar, dass hier manchmal — nicht immer! — wild fabuliert und selbstinszeniert wird. In »The Irishman« geht er einen Schritt weiter: Die Lebensbeichte, als solche wird die Geschichte erzählt, ist hier per se eine Lüge — in der sich allerdings viel Wahrheit verbirgt. 

Scorsese wählt dafür eine Form, die man in seinem Schaffen bislang noch nicht gesehen hat: extrem kühl, deskriptiv, langsam, grausam sardonisch — eine halsbrecherische Mischung aus Erich von Stroheims detailversessenem, ebenso vulgären wie grimmigen Naturalismus und Naruse Mikios wie von Depressionen schockstarrem Realismus. Die Ermordung Hoffas ist ein Paradebeispiel: Da wird der gesamte Weg im Detail bis zur eigentlichen Tat gezeigt — Minuten um Minuten von Einzelheiten, die ebenso banal, belanglos, monströs, quälend wie notwendig sind. Die 209 Minuten Laufzeit vergehen wie im Flug, und doch merkt man in jeder Sekunde, wie die Ereignisse, Bewegungen, Worte zerdehnt werden, das unablässige Verfließen von Zeit. Deren Kostbarkeit wird sarkastisch dadurch betont, dass kurze Texteinblendungen dauernd mitteilen, wer eines gewaltsamen Todes starb — nämlich so ziemlich jeder.

Die Figur, welche Scorsese in »The Irishman« am meisten innerlich umtreibt, ist wahrscheinlich Hoffa — der zweite Arbeiter-Messias seines Schaffens nach Bill Shelly in »Boxcar Bertha« (1972). Hoffa, gespielt von Al Pacino, ist ein Mann seiner Klasse, ein Kämpfer für die arbeitende Bevölkerung — dafür aber auch Willens, die Sache moralisch zu verraten, indem er sich mit der organisierten Kriminalität einlässt. Die Erfolgsgeschichte der Transportarbeitergewerkschaft zur Mitte des 20. Jahrhunderts ist für Scorsese auch eine Erfolgsgeschichte des Verbrechens. Der Erfolg ist ein rein materieller — Einfluss, bessere Löhne und Arbeitsbedingungen — in einer Welt, die für Moral keinen Nutzen hat. Hoffa hofft darauf, so scheint es, dass am Ende das Gute gewinnt, selbst wenn es sich mit dem Bösen einlässt. Doch Scorsese zeigt, dass Gott nicht mit sich handeln lässt — und dass das Proletariat sich auch nicht auf Handel dieser Art einlassen darf.

USA 2019, R: Martin Scorsese, D: Robert De Niro, Al Pacino, Joe Pesci, 209 Min.