Tränenloses Frauen-Portrait: »Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão«

»Pure Unterhaltung ist für mich sinnlos«

Karim Aïnouz über sein tropisches Melodrama »Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão«, den Rechtsruck in Brasilien und das Konzept der saudade

Rio de Janeiro in den 50er Jahren. Die beiden einst innig verbundenen Schwestern Eurídice und Guida ahnen nicht, dass sie wieder in derselben Stadt wohnen. Der engstirnige Vater verhindert den Kontakt und so kämpft jede für sich um ein selbstbestimmtes Leben. Das schillernde Melodrama von Karim Aïnouz wurde in Cannes mit dem Prix Un Certain Regard ausgezeichnet und vertritt Brasilien im Rennen um die Nominierung zum Auslands-Oscar.

Ihr neuer Film basiert auf dem Roman »Die vielen Talente der Schwestern Gusmão« von Martha Batalha, der vor drei Jahren auch auf deutsch erschienen ist. Was hat Sie an dem Stoff gereizt?

Als ich das Buch las, erkannte ich sofort Parallelen zu meinem eigenen Leben und zu den Frauen, mit denen ich aufgewachsen bin, vor allem zu meiner Mutter. Ich konnte mich absolut damit identifizieren und es berührte mich sehr. Es ist ein wundervolles Porträt der Frauen dieser Generation. Was mich vor allem interessiert hat, war, wie diese beiden Schwestern durch einen sehr autoritären Vater getrennt wurden, wie sie mehr mit elterlichem Zwang als mit Liebe aufgewachsen sind und welche Folgen das für ihr ganzes Leben hat. Das haben wir noch mehr in den Fokus gerückt als im Buch. Wir haben Dinge in der Handlung verändert, aber die Seelen der Figuren bewahrt.

Der Film ist ein tropisches Melodrama, in dem die Schwüle Brasiliens zu spüren ist. Wie haben Sie den Ton und die Atmosphäre des Films gefunden?

Das war ein sehr intuitiver Prozess. Ich wollte keinen nostalgischen Historienfilm drehen, der Konventionen zitiert. Ich wollte ein spezifisch brasilianisches und möglichst zeitgemäßes Melodrama erschaffen, das für ein heutiges Publikum relevant ist. Und das hat mit den Körpern zu tun, die hier sehr präsent sind. Klassische Melodramen sind sehr puritanisch. Das würde diesen Frauen nicht gerecht. Und ich wollte unbedingt vermeiden, weinende Frauen zu zeigen. Es geht um Widerstand in meinem Film, die Tränen enthalte ich dem Publikum vor. Ich habe viel darüber nachgedacht, was Melodramen unterschiedlicher Kulturkreise unterscheidet, ein ägyptisches von einem mexikanischen von einem spanischen etwa. Das hier ist ein dezidiert brasilianisches Melodram.

Was verstehen Sie genau darunter?

Der deutsche Titel des Films lautet »Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão«. Ich mag ihn sehr, denn Sehnsucht ist sehr nah an dem, was wir auf portugiesisch saudade nennen. Es beschreibt unter anderem das Vermissen von Menschen, die ausgewandert sind und die Hoffnung, sie eines Tages wiederzusehen. Von dieser Melancholie, diesem Weltschmerz handelt der Film. Sehr brasilianisch sind auch die Frauenfiguren, ihre Art zu gehen, zu sprechen, wie sie miteinander umgehen. Und auf der Bild- und Tonebene ist der Film natürlich immer von dieser üppigen Natur infiziert, dem Regenwald, der Rio de Janeiro umgibt. Die feuchte Hitze, der Exzess der Farben und der Musik, aber auch die Figuren: Nichts ist minimalistisch, und all das macht den Film so spezifisch. Diese Geschichte kann nur an diesem Ort stattfinden.

Wie sehr reflektiert der Film die Situation von Frauen in Brasilien heute?

Meine Mutter war alleinerziehend, ich identifiziere mich also sehr mit der Figur der Guida und ihrem kleinen Sohn, da steckt viel drin, was meine Mutter und ich auch erlebt haben. Natürlich hat sich viel verändert in den Jahrzehnten, von der Pille über die sexuelle Revolution bis zum Kampf um Frauenrechte in den 70er Jahren. Aber es droht jetzt durch die ultrakonservativen Mächte im Land wieder verloren zu gehen. Die Gewalt gegen Frauen, vor allem gegen nicht-weiße Frauen, nimmt zu. Und was sich in all der Zeit am wenigsten verändert hat, sind die Männer und ihre Ignoranz. Wir sind immer noch eine absolut toxische Macho-Gesellschaft.

Nebenbei geht es auch um soziale Ungerechtigkeit in Brasilien …

Vor allem Rio ist ein extrem segregierter Ort. Arm und Reich begegnen sich oft überhaupt nicht, die Leute bleiben in ihren Vierteln unter ihresgleichen. Das hat mit Klassenzugehörigkeit zu tun, aber auch mit Ethnizität. Und das zeige ich auch im Film. Mich haben diese unterschiedlichen Frauen interessiert und das weibliche Netzwerk der Solidarität, das zumindest in Teilen besteht.

Beschäftigen Sie sich mit diesen Themen auch aus persönlichen Gründen?

Ich stamme aus einer Stadt im Norden Brasiliens, fühlte mich auch sonst immer wie ein Außenseiter. Mein Vater war Algerier, meine Mutter zog mich alleine auf, ich bin queer. Das treibt mich auch als Filmemacher an: Ich kann nicht bloß eine Geschichte erzählen, sie muss auch Relevanz haben, nicht nur für mich persönlich, sondern auch politisch. Pure Unterhaltung ist ein Konzept, das für mich sinnlos ist.

Sie sind mit 18 Jahren zu ihrem Vater nach Berlin gezogen, haben später in New York studiert und die letzten zehn Jahre in Berlin gelebt. Prägt dieser Blick aus der Distanz auch ihr Bild von Brasilien?

Sicherlich. Auch ich spüre saudade, habe Sehnsucht nach diesem Land, auch wenn ich aus eigenen Stücken weggegangen bin. Aber es beeinflusst meine Arbeit. Zugleich hilft mir die Distanz, nicht unterzugehen im alltäglichen Kampf hier und Dinge klarer zu sehen. Aber eigentlich ist es keine Distanz, sondern ein Dazwischensein.