Thomas Schmidt: »Macht wird zu einem regulären Management-Instrument am Theater«

Macht und Gehorchen

Thomas Schmidt findet, das Intendanten­modell sollte abgeschafft werden

Geht es um die Umstrukturierung der Theaterhäuser, ist Thomas Schmidt eine der radikalsten Stimmen. Das Modell des Intendanten als obersten Leiter eines Bühnenhauses erinnere ihn, so sagte er in einem Interview, an Zeiten des 19. Jahrhunderts: Ein überkommenes Überbleibsel aus dem Absolutismus. Mit der Stadtrevue spricht Schmidt — ehemals Geschäftsführer und später Intendant am Deutschen Nationaltheater Weimar, heute Professor für Theater- und Orchestermanagement in Frankfurt — über seine im September 2019 erschienene Studie »Macht und Struktur im Theater«: Hier fragt er nach Machtmissbrauch an Theatern und ihren Ursachen.

Herr Schmidt, heute schon Gegenwind bekommen?

Überhaupt nicht. Falls Sie die Reaktionen auf meine aktuelle Studie meinen: Die sind durchweg positiv. Allein auf eine Stellungnahme vom Deutschen Bühnenverein warten wir bis heute. Da wurden lediglich mehrere Exemplare meines Buches angefordert. Vielleicht werden die noch gelesen?

Ihre aktuelle Studie sorgt derzeit für Furore, weil es in wissenschaftlich repräsentativen Zahlen den Machtmissbrauch an Theatern darstellt. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse?

Im Rahmen unserer Studie haben wir 1966 Mitarbeiter aus deutschsprachigen Theaterbetrieben befragt. Vor allem darstellende Künstler arbeiten demnach weit länger und mehr, als das Gesetz vorsieht, dabei ist die Zeit der Vorbereitung, also etwa um Texte zu lernen, noch nicht eingerechnet. 55 Prozent der Befragten haben außerdem angegeben, psychischen, körperlichen, verbalen oder sexuellen Machtmissbrauch am Theater zu erleben, ausgeübt zu 65 Prozent durch Intendanten und Regisseure.

Macht wird zu einem regulären Management-Instrument im Theater, schreiben Sie im Buch. Laut Ihrer Studie sind weibliche Bühnenkünstlerinnen am stärksten von Missbrauch betroffen. Wie systematisch ist das?

Systematisch insofern, als dass ich nach allen Formen und Abstufungen des Missbrauchs gefragt habe und dabei auch die Option eigener Kommentarfelder offen ließ, die über 4000 mal genutzt wurde. Neben den Ergebnissen in Zahlen habe ich also auch sehr viel qualitatives Material ausgewertet. 121 Befragte haben angegeben, dass sie sexuelle Gefälligkeiten geleistet haben, um eine Rolle oder ein Engagement zu ergattern, 284-mal wurde das Angebot von Leitern und Regisseuren ausgesprochen, Rollen und Engagements gegen sexuelle Gefälligkeiten bevorzugt zu vergeben. Aber der Missbrauch geht oft deutlich weiter. Ich würde nach den Ergebnissen der Studie von einer Systematik sprechen — das reicht von Verniedlichungen, sexistischen Sprüchen bis hin zum körperlichen Drängen und der Buchung eines »Extra-Zimmers«.

Hauptbegünstigter und zugleich ein wichtiger Faktor für die Asymmetrie von Macht sei der Intendant. Woher stammt dieses Modell?

Das Intendantenmodell stammt aus der Zeit des Absolutismus, als Fürstenhäuser einen meist niedrigen Adligen am Hofe als Intendanten bestellten. Er war das Bindeglied zwischen Theaterhaus und Adel, der die Geschäfte regelte und Spielpläne absegnen ließ — die Schauspieler haben damals sehr eigenständig über Engagements, Besetzungen und Spielpläne entschieden, das ist leider verloren gegangen. Ein Theaterhaus ist immer auch ein ökonomischer Betrieb, in dem Einzelne profitieren und Veränderungen sich vor allem dann sehr langsam vollziehen, wenn sie die Macht des Intendanten berühren könnten.

Nach welchen Kriterien werden Intendanten heute gewählt?

Sie werden von Findungskommissionen gewählt, in denen vor allem selbst Intendanten sitzen. Das sind Menschen, die in der scharf umkämpften Branche des Theaters häufig danach streben, ihren Arbeitsplatz zu sichern. So entstehen Netzwerke und gegenseitige Verbindlichkeiten. Intendanten sollten deshalb besser von unabhängigen Experten und den zuständigen Kulturpolitikern ausgewählt werden, die das Theater insgesamt im Blick haben.

Schon 2017 forderten Sie in Ihrem Buch »Theater, Krise und Reform«, Theaterbetriebe gemeinschaftlich zu organisieren und Schauspielern mehr Mitspracherecht einzuräumen. Wie könnte ein solches Modell aussehen?

Teams aus leitenden Dramaturgen, Regisseuren und Personen aus Marketing und Geschäftsführung treffen auf Augenhöhe mit dem Künstlerischen Leiter Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip. Die archaische Funktion des Intendanten — ein Gemischtwarenladen aus Verantwortlichkeiten — wird damit überflüssig. Die meisten Intendanten sind darauf ohnehin nicht vorbereitet. Im ­Aufsichtsgremium sollten künf­tig auch Darsteller sitzen, denn mo­­mentan weiß man dort oft gar nicht, wie die Situation am Theater wirklich ist.

Sie glauben, dass sich auch der künstlerische Prozess durch die Umstrukturierung verbessern würde?

Auf jeden Fall, weil durch ein Leitungsteam eine viel bessere Qualitätskontrolle entsteht. Wissen Sie, es gibt bei Generalproben häufig diesen fast schon cäsarischen Moment, wenn der Intendant entweder nickt oder eben nicht, also darüber entscheidet, ob die Arbeit eines künstlerischen Teams, das acht Wochen lang geprobt hat, aus seiner Sicht gut genug ist, um so zur Premiere zugelassen zu werden. Das muss aufhören, auch zugunsten der Vielfalt von Produktionen.

Buch: Thomas Schmidt, »Macht und Struktur im Theater. Asymmetrien der Macht«, Springer VS, 2019, 464 Seiten, 50 Euro